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Abwegige Entwicklungen von primär regelrechten Befunden rechtzeitig erkennen und gestörte Entwicklungsabläufe in korrekte Bahnen lenken

Diskussionen über Gebissalterung und ihre Auswirkungen beschäftigen seit jeher die Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Naturgegebene Veränderungen des Gebisses lenken und leiten vor allem den Kieferorthopäden in vier Wachstumsphasen (Kleinkind, Kind, Jugendlicher, Erwachsener), welche von der Gesichts- und Gebissentwicklung geprägt sind. Art und Umfang der natürlichen Gebissalterung im Kauorgan können interdisziplinär eine fünfte Therapiephase von der Diagnostik bis zur Retention prägen. Prof. Dr. Ingrid Rudzki zeigt in ihrem Beitrag für die Quintessenz Zahnmedizin 11/18 auf, wie wichtig es ist, die morphologische Qualität des stomatognathen Systems nach den durch Langzeitstudien erkannten Alterungsprozessen im Gebiss neu zu bewerten sowie die Kaufunktion und Ästhetik in interdisziplinärer Zusammenarbeit der zahnmedizinischen Fachdisziplinen individuell optimal anzupassen und zu bewahren. Alle diesbezüglichen Anstrengungen werden nur im gemeinsamen Kontext erfolgreich sein und dem Patienten langfristig Beschwerdefreiheit und Zufriedenheit gewähren.

Die „Quintessenz Zahnmedizin“, Monatszeitschrift für die gesamte Zahnmedizin, ist der älteste Titel des Quintessenz-Verlags, sie wurde 2019 wie der Verlag selbst 70 Jahre alt. Die Zeitschrift erscheint mit zwölf Ausgaben jährlich. Drei Ausgaben davon sind aktuelle Schwerpunktausgaben, die zusätzlich einen Online-Wissenstest bieten mit der Möglichkeit, Fortbildungspunkte zu erwerben. Abonnenten erhalten uneingeschränkten Zugang für die Online-Version der Zeitschrift und Zugang zur App-Version. Mehr Infos, Abo-Möglichkeit sowie ein kostenloses Probeheft bekommen Sie im Quintessenz-Shop.

Einführung

Seit ca. drei Jahrzehnten lässt sich ein rasant zunehmendes Interesse am „Aging“ im Kauorgan erkennen. Dies betrifft alle zahnärztlichen Fachbereiche in einem zuvor nicht bekannten Ausmaß. Unbestritten liegen die Ursachen in der deutlich angestiegenen Lebenserwartung unserer Patienten mit parallel ebenso steigender Zahngesundheit, wie die aktuelle Fünfte Deutsche Mundgesundheitsstudie24 aus dem Jahr 2016 zeigt – ein begrüßenswertes Resultat der seit Jahrzehnten erfolgreich durchgeführten Individual- und Gruppenprophylaxe. Parodontal gesunde, kariesfreie bzw. zahnärztlich gut versorgte Zähne versetzen das Kauorgan in die Lage, seinen täglichen Basisaufgaben – dem Abbeißen und Kauen sowie dem Schlucken und Sprechen – über das gesamte Leben hinweg gerecht zu werden. Um all diese Funktionen bewältigen zu können, sind obere und untere Zahnreihen nötig, die störungsfrei miteinander kommunizieren. Bei der Vielzahl von individuell unterschiedlichen Zahngrößen und Zahnbogenformen im Gebiss erfordert eine physiologische und stabile Funktion des stomatognathen Systems nicht nur einen symmetrischen Aufbau der Zahnbögen mit intermaxillärer, dentoalveolär und basal (skelettal) harmonischer Zuordnung, sondern auch eine ausbalancierte muskuläre Umgebung mit kompetentem Lippenschluss bei freier Nasenatmung23,40,47.

Abb. 1 Fünf-Phasen-Therapie nach Rudzki et al.40, visualisiert in der Wachstumskurve nach Björk. Im Anschluss an die Prävention folgen transversale, vertikale und sagittale Kontrollen sowie gegebenenfalls therapeutische Maßnahmen.
Abb. 1 Fünf-Phasen-Therapie nach Rudzki et al.40, visualisiert in der Wachstumskurve nach Björk. Im Anschluss an die Prävention folgen transversale, vertikale und sagittale Kontrollen sowie gegebenenfalls therapeutische Maßnahmen.

Die therapierelevanten Entwicklungsphasen des Kauorgans

Alle stets interdisziplinär ausgerichteten therapeutischen Bemühungen orientieren sich an den zuvor genannten Voraussetzungen, um während aller Gebissperioden (Milch-, Wechsel- und bleibendes Gebiss) die Gesundheit des Kauorgans mit individuell optimaler Funktion und Ästhetik zu gewährleisten. Auf diese Weise können physiologische Veränderungen im Kauorgan, welche primär in Abhängigkeit von der Gesichtsentwicklung analog zur gesamten Skelettentwicklung stattfinden21, eingeordnet und berücksichtigt werden. Elementar sind dabei ein patientengerechtes Auffinden der korrekten Diagnose und die Koordination aller therapeutischen Bemühungen mit genauer zeitlicher Planung. Ausgehend von der jährlichen Zuwachsrate der Körpergröße lassen sich dafür vier Wachstumsphasen differenzieren2,3 – die Kleinkindperiode, das Kindesalter, der pubertäre Zeitraum des Jugendlichen bis zum Ende des Restwachstums und das Erwachsenenalter (Abb. 1). Basierend auf diesem skelettalen Hintergrund müssen nach der Vorgabe, zur rechten Zeit das Richtige zu tun, alle therapeutischen Interventionen durchgeführt werden. Die dafür notwendigen diagnostischen Vorgaben gehen primär „basal“ vom skelettalen Typ (Gesichtstyp) und vom Charakter (vertikale basale Differenzialdiagnose) des jeweiligen Gebissbefundes aus40.

Der Gebissbefund allein informiert lediglich über die dentoalveoläre Diagnose. Eine nach der basalen Gesichtsstruktur in der jeweiligen Entwicklungsphase des Kauorgans unerlässliche Differenzierung aller dentoalveolären Befunde mit Festlegen der individuellen dentobasalen Behandlungsaufgaben ermöglicht die individualisierte Kephalometrie48 mit Bezug auf fließende Normen anstelle individuell nicht zutreffender kephalometrischer Mittelwerte. So kann der individuelle Therapierahmen mit seinen Grenzbereichen erkannt und korrekt umgesetzt werden. Darüber hinaus ist für eine langfristige Stabilität des kieferorthopädischen Behandlungsergebnisses eine genaue Kenntnis über Art und Umfang des skelettalen Wachstums der Maxilla und der Mandibula sowohl bezüglich Translation als auch Rotation erforderlich2,3,11,34,45. In diesem Zusammenhang gilt es, nicht nur die wachstumsintensive Zeit im Jugendalter in Bezug auf die zu erwartende mandibuläre (skelettale) Veränderung mit Profilbegradigung zu berücksichtigen, sondern auch die im höheren Lebensalter auftretenden altersbedingten transversalen, vertikalen und sagittalen Veränderungen im Gebiss, um durch eine entsprechende kieferorthopädische Therapieplanung und -durchführung unter Beachtung wichtiger Retentionskriterien40 und Stabilitätsfaktoren32 ein langfristig funktionell und ästhetisch zufriedenstellendes, stabiles Behandlungsergebnis zu ermöglichen.

Frühbehandlung im Kindesalter

Der Fokus einer konsequenten Wegbegleitung unserer Patienten in der seit Jahrzehnten vertrauten „Vier-­Phasen-­Therapie“ (vgl. Abb. 1) liegt darauf, abwegige Entwicklungen von primär regelrechten Befunden rechtzeitig zu erkennen und einen gestörten Entwicklungsablauf wieder in korrekte Bahnen zu lenken. Ursache für erworbene Unregelmäßigkeiten in der Gesichts- und Gebissentwicklung sind zumeist Ha­bits und Parafunktionen26, seltener auch Traumata. Bei ererbten, als „fehlerhaft“ einzustufenden Gebissbefunden (Malokklusionen, Diskrepanzen und Dysgna­thien)12 gilt es dafür zu sorgen, dass diese nicht durch orofaziale Dysfunktionen unnötig verstärkt, sondern – soweit möglich – rechtzeitig abgeschwächt werden54. Vorpubertär wird maxillären Defiziten mit orthopädischen Kräften begegnet: transversal durch eine Gaumennahterweiterung10,17,25 und vertikal-sagittal durch eine orthopädische maxilläre Beeinflussung (zum Beispiel mittels Gesichtsmaske nach Delaire). Zwangslagen des Unterkiefers können mit Hilfe von Aufbissbehelfen korrigiert werden18. Ein hoher Stellenwert kommt dabei dem Schutz des unteren zahntragenden Abschnittes in der Transversalen und Sagittalen zu, welcher durch im Steilstand durchbrechende obere Inzisivi in der Entwicklung gehemmt werden kann, unterstützt durch einen verstärkten Tonus des M. mentalis.

Kieferorthopädische Therapie beim Jugendlichen in der Pubertät

Während der Pubertät dominiert zunächst bei ererbtem, günstigem mandibulärem Wachstum (vgl. Abb. 1) die dentoalveoläre sagittale Begleitung eines skelettal bedingten Klasse-II-Befunds mit Hilfe der Funktionskieferorthopädie22,43, bis die skelettale Klasse I, das heißt, eine Neutralbisslage erreicht ist. Bei skelettalen Klasse-III-Befunden werden ebenso wie bei ausgeprägten transversal-lateralen und vertikalen Dysgnathien in dieser wachstumsintensiven Zeit kieferorthopädische Interventionen ausgesetzt51,52. Radiologisch und modellanalytisch gestützte Langzeitstudien an unbehandelten Probanden, die zumeist bis zum 18. Lebensjahr reichen, zeigen die natürlichen, entwicklungs- beziehungsweise wachstumsbedingten Veränderungen der Kieferbasen2,3 und Zahnbögen37 beim Jugendlichen, welche in der Planung therapeutischer Interventionen berücksichtigt werden müssen und auch diagnostisch zur skelettalen wie dentalen Altersbestimmung eines Patienten herangezogen werden können31. Bezüglich der im Jugendalter erreichten funktionellen und morphologischen Veränderungen im stomatognathen System, welche den muskulären, skelettalen, dentobasalen und dentoalveolären Bereich sowie das Kiefergelenk bis hin zur vaskulären, lymphatischen und neuralen Steuerung betreffen, kann posttherapeutisch im Erwachsenenalter eine „relative Stabilität“ erwartet werden41. Mit Abschluss der aktiven Wachstumsphase des Jugendlichen ist jedoch erst das junge Erwachsenenalter erreicht, das nicht mit einem Sistieren morphologisch-funktioneller Veränderungen im Sinne einer „absoluten Stabilität“ des Kauorgans einhergeht32.

Die beginnende physiologische Gebissalterung als vierte Phase

Im jungen Erwachsenenalter mit seinem noch „jugendlichen Kauorgan“ sind es in erster Linie ästhetische Beweggründe, das heißt, der Wunsch nach einer Korrektur der fehlerhaften Zahnstellung beziehungsweise der disharmonischen Kieferbasenrelation, die zu einer kieferorthopädischen Beratung führen. Funktionelle Probleme werden erst sekundär angesprochen, obwohl sie tendenziell schon vorhanden sind, jedoch noch nicht bewusst als belastend empfunden werden. Die seit Langem bekannten altersbedingten Gebissveränderungen, welche bereits gegen Ende der Jugend auffällig werden, beziehen sich auf „skelettale Disharmonien“ (Dysgnathien)51,52 und den „tertiären Engstand“21. Beide Befunde mit unterschiedlich ausgeprägtem, aber immer ererbtem Charakter gehören seit 2013 zur Pflichtaufklärung vor Beginn jeder kieferorthopädischen Behandlung innerhalb der vier Therapiephasen (Patientenrechtegesetz §§ 630c und e BGB). Hinsichtlich dieser Gebissalterung, die sich am Ende des zweiten und dann fortlaufend im dritten Lebensjahrzehnt bemerkbar macht, kann auf klassische interdisziplinäre Behandlungsoptionen zurückgegriffen werden, deren Akzeptanz der Entscheidung des Patienten obliegt. Für Dysgnathien steht bei erwachsenen Patienten eine operative Harmonisierung der Kieferbasen zur Verfügung44,51,52, für den tertiären Engstand ein Rekrutieren von Platzquellen in den Zahnbögen – invasiv durch approximale Schmelz­reduktion (ASR)21 oder (sehr selten) durch Einzelzahnextraktion im anterioren unteren Schneidezahnsegment. Vielfach liegt die Lösung des Engstandsproblems in einer neuen, umfassenden Behandlungsplanung für beide Zahnbögen, wobei eine weitere physiologische Verstärkung des tertiären Engstands in den noch anstehenden Lebensjahrzehnten prognostisch einzukalkulieren ist.

Die wohl häufigste ästhetische Beeinträchtigung, welche bereits den jungen Erwachsenen als „Alterungszeichen des Gebisses“ in die zahnärztliche Praxis führt, betrifft die altersbedingte Zahnverfärbung38. Ursache für interne Verfärbungen ist unter anderem die Einnahme bestimmter Medikamente wie Tetracyclin-Antibiotika während der Odontogenese, während äußere Verfärbungen vor allem durch Zahnbeläge beziehungsweise Farbpigmente aus Lebensmitteln, speziellen Getränken und Bakterien sowie Tabakrauch hervorgerufen werden. Eine Zahnaufhellung versprechen immer zahlreicher angebotene spezielle Zahnpasten ebenso wie professionelle Methoden des Zahnbleichens (Bleaching), denn von gerade stehenden, blendend weißen Zähnen wird eine höhere Attraktivität und damit verbundene erfolgreiche, leichtere Integration in das private wie berufliche Umfeld erwartet, was jedoch nicht zwangsläufig der Fall sein muss16.

Eine weitere therapierelevante Folge der Gebiss­alterung betrifft die zunehmende Entwicklung chronisch-­entzündlicher Parodontalerkrankungen im Erwachsenenalter mit entsprechenden Folgen wie einem horizontalen und vertikalen Attachment- und Knochenverlust27,30. Dieser wird durch den Konsum von Nikotin und durch kieferorthopädische Kräfte bei aktiven Entzündungsprozessen inklusive unerwünschter externer Zahnwurzelresorptionen weiter verstärkt28,29,33. Der fortschreitende Attachmentverlust begünstigt auch Zahnlockerungen und Zahnwanderungen, insbesondere eine Auffächerung („flaring“) der Frontzähne nach labial mit nachfolgender Lückenbildung und begleitenden gingivalen Rezessionen27,30 (Abb. 2a und b). Dieser Sachverhalt erfordert im Erwachsenengebiss eine kieferorthopädische Therapie aus funktionellen und ästhetischen Gründen sowie zur Prävention weiterer okklusal-traumatischer Fehl- und Wechselbelastungen (unter anderem Jiggling) mit entsprechender Progression der parodontalen Destruktion27,30. Die Behandlung sollte immer interdisziplinär und unter Berücksichtigung wichtiger Prinzipien bezüglich der anzuwendenden Biomechanik unter strenger Kontrolle und Einhaltung einer optimalen Mundhygiene erfolgen27,30. In diesem Fall sind durch eine kieferorthopädische Zahnstellungskorrektur nach erfolgreicher systematischer Parodontaltherapie mit Ausheilung akut-entzündlicher Prozesse prinzipiell keine Nebenwirkungen für den Patienten zu befürchten27,30.

Die fünfte Entwicklungsphase des Kauorgans – fortschreitende physiologische Gebissalterung

Im späteren Erwachsenenalter, beginnend im vierten, noch auffälliger im fünften Lebensjahrzehnt, dominieren zunehmend funktionelle Störungen und Schmerzen, die psychisch eine größere Beeinträchtigung bedeuten als ästhetische Einschränkungen. Kieferorthopädisch betrifft dies häufig vom Zahnarzt beziehungsweise Parodontologen überwiesene ältere Patienten, insbesondere nach dem 40. Lebensjahr. In diesem Alter werden bewusst vestibuläre, ausgeprägte Gingiva­rezessionen14 im sichtbaren Frontzahnbereich bemerkt (vgl. Abb. 2a und b), verbunden mit Zahnlockerung, Empfindlichkeit bezüglich oraler Temperaturänderungen und der Angst vor Zahnverlust. Nicht selten sind hierfür ausgeprägte dentale Kompensationen skelettaler Disharmonien verantwortlich (Abb. 3a bis c), welche sich nur zum Teil auf kieferorthopädische Interventionen zurückführen lassen. Häufig werden diese dentobasalen Veränderungen durch Parafunktionen und eine ausgeprägte Enge des Zungenraumes verursacht. Deshalb ist es erforderlich, bei entsprechender Konfiguration eine morphologische Vergrößerung des Zungenraumes im Kindesalter mit Hilfe einer konservativen Gaumennahterweiterung10,36 beziehungsweise später mit chirurgischer Unterstützung („surgical assisted rapid maxillary expansion“, SARME)20 zu erreichen sowie gegebenenfalls auch eine posteriore maxilläre Impaktion bei basal offener Kieferbasisrelation anzustreben, wenn deren Ursache in einer posterioren Neigung der Mandibula und einem großen Kieferwinkel (O1mand.strukt.-Typen48) besteht.

Im Mittelpunkt der Diskussion steht in diesem Zusammenhang, ebenso wie bei früheren, kieferorthopädisch induzierten dentalen Kompensationen skelettaler Disharmonien21,48,49, die Nichtbeachtung von biologischen Grenzen innerhalb der zahntragenden Abschnitte, welche letztendlich zum Knochenverlust führt (Abb. 3a bis c). Hinweise auf die Stabilität therapeutisch beeinflusster Umformungen von Zahnreihen und Änderungen der Zahnstellungen beim älteren und alten Gebiss können entsprechenden Untersuchungen zu altersbedingten Veränderungen in den Zahnbögen entnommen werden4-9. Zur Entstehung von Rezessionen führen neben einer ungünstigen Zahnputztechnik auch Bruxismus und Pressen (Abb. 4a und b), wenn nur eine dünne bukkale alveoläre Knochenlamelle mit fragilem Weichgewebsmantel die Zahnwurzeln überdeckt. Dies ist häufig beim retrognathen Gesicht mit basal offener Konfiguration der Fall. Als Auslöser für einen pathologisch erhöhten Tonus der Kaumuskulatur kommen eine genetische Disposition, psychische Barrieren, die es zu „verarbeiten“ gilt, sowie eine fehlerhafte Kiefergelenkfunktion und Probleme der Okklusion in Frage.

Okklusale Abrasionen von Zahnhartsubstanz sind mehr oder weniger ausgeprägt in allen Gebissperioden zu finden. Sie ermöglichen diagnostisch wertvolle Rückschlüsse auf die Art der vorliegenden Okklusion und die darauf Einfluss nehmende muskuläre Aktivität. Beginnend in der Nutzperiode des Milchgebisses über das Wechselgebiss bis hin zum jungen und alten bleibenden Gebiss sind Abrasionen unterschiedlich stark ausgeprägt. Obwohl ein muskuläres Fehlverhalten an sich nicht direkt dem Alterungsprozess zuzuschreiben ist, führen seine Auswirkungen im späten bleibenden Gebiss doch zu einem messbaren Verlust an vertikaler Bisshöhe mit der Folge von Kompressionen in den Kiefergelenken. Eine kephalometrische Rekonstruktion über den Diagonalwinkel von Ascher1, ausgehend vom maxillären Bereich und den Kiefergelenken, kann bei der Suche nach der individuell richtigen Bisshöhe helfen. Die zunehmende Verringerung der Bisshöhe belastet die Frontzähne, wenn diese infolge von posttherapeutisch eingesetzten festsitzenden Retainern am notwendigen Ausweichen gehindert werden (Abb. 5a bis c). In diesem Fall sollten aktive Aufbissbehelfe18 zum Einsatz kommen, welche zur Freigabe der Unterkieferlage ggf. mittels Protrusion der oberen Inzisivi und neben einer neuromuskulären Entlastung auch zur Rekonstruktion der individuell akzeptablen Bisshöhe beitragen können. Ausgeprägte Abrasionen zeigen sich vor allem bei Patienten mit klassischen Deckbiss-Symptomen21 (vgl. Abb. 4a und b). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass im älteren Gebiss interdentale Abrasionen als Folge der in heutiger Zeit weniger abrasiven Nahrung seltener auftreten. Diese Art von Attrition kann jedoch auch durch eine entsprechende muskulär induzierte Kraftübertragung bei Bruxismus entstehen, wobei die Reibungsflächen benachbarter Zähne im Fall von Zahnfehlstellungen zumeist im funktionellen und nicht im anatomischen Kontaktbereich liegen19.

Das ältere Gebiss zeigt weiterhin innerhalb der Zahnbögen und okklusal spezifische Veränderungen, die in Langzeitstudien sowohl bei unbehandelten Erwachsenen, aktuell bis zum 65. Lebensjahr, als auch bei kieferorthopädisch behandelten Patienten festgestellt wurden5,7,8,35,53. Da dieser altersbedingte Wandel aller Gewebestrukturen, welcher auch im Kauorgan auftritt, nicht aufzuhalten ist, müssen bei jeder interdisziplinären Versorgung älterer Patienten gewisse altersbedingte Entwicklungsprozesse beachtet werden, um diesem Wandel auch therapeutisch gerecht zu werden:

  • Im dentalen Bereich verkleinert sich die interkanine Distanz zunehmend13, gefolgt von einer Aufrichtung (Retrusion) der unteren Inzisivi, welche zur Verkürzung der anteroposterioren Zahnbogenlänge führt32. Zuerst ist dieses Phänomen im unteren32,35, später dann auch im oberen Zahnbogen zu beobachten53. Damit sind Engstände im Bereich der Inzisivi programmiert und bedingen den tertiären Engstand, der deshalb kein Rezidiv nach kieferorthopädischer Behandlung darstellt21. Auch kommt es mit zunehmendem Alter zu einer „Gaumenerhöhung“53, begleitet von einer transversalen Reduzierung der posterioren Breite im Seitenzahngebiet, wodurch Kopf- und Kreuzbisse entstehen können55.
  • Im skelettalen Bereich werden diese dentoalveolären Veränderungen von einer individuell unterschiedlich ausgeprägten, anterioren Rotation der Mandibula mit fortgesetzter Vertikalentwicklung des Ramus bis in das Erwachsenenalter begleitet32. Ihr Ausmaß hängt vom ererbten Wachstumscharakter der Mandibula ab2 und ist bei Männern größer als bei Frauen32. Diese Entwicklung erklärt die in der Pubertät dominierende Verstärkung der anterioren mandibulären Rotation beziehungsweise führt zu einer Abschwächung des gegebenenfalls vorliegenden mandibulären Rotationsverhaltens nach posterior. Daraus ergeben sich auch entsprechende altersbedingte Veränderungen des vertikalen und sagittalen Überbisses (Overjet/Overbite) im Bereich der Inzisivi. Die damit verbundene altersbedingte weitere Begradigung des Gesichtsprofils fällt bei Männern moderat größer aus als bei Frauen32.
  • Im muskulären Bereich bestätigen Langzeitstudien die altersbedingte Verlängerung der Oberlippe ebenso wie den steigenden Tonus des M. mentalis und des M. orbicularis oris, vor allem bei Frauen. Dieser Sachverhalt verstärkt die Retrusion der unteren Inzisivi mit Abflachung des Lippenprofils sowie zunehmender Ausprägung der Kinnmuskulatur und -prominenz32. Der Zungentonus wird geringer, womit auch die funktionelle Abstützung der Inzisivi von dorsal abnimmt, ebenso wie ein viszerales Schluckmuster mit phonetischen Beeinträchtigungen durch Lispeln.
  • Die Verkleinerung der anterioren Zahnbogensegmente, welche einen physiologischen Platzverlust zur Folge hat, wird durch eine gegenläufige Bewegung im Seitenzahnbereich, die Mesialdrift, weiter verstärkt. Je nach Ausmaß der Kaubelastung erhalten die Seitenzähne einen Schub nach mesial, wobei interdentale Abrasionen in unterschiedlichem Ausmaß zu einer Minderung des entstehenden Platzdefizits im Zahnbogen führen können19.

Konsequenzen der Gebissalterung für die Zahnheilkunde

Die „Gebissalterung“ ist Bestandteil des physiologischen Älterwerdens des Gesamtorganismus. Dieses Phänomen lässt sich ohne Zweifel nicht aufhalten, auch wenn es von Mensch zu Mensch höchst unterschiedlich verläuft. Zahlreiche Langzeitstudien verweisen aktuell auf die vorgestellten Symptome der Gebissalterung13-15,21,23,35,39,42,46. Von Anbeginn einer Behandlungsplanung müssen daher die bekannten Alterungsprozesse diagnostisch und therapeutisch uneingeschränkt Berücksichtigung finden, auch in Relation zur Nachsorge der Therapie, der Retention21. Ebenfalls dürfen im Rahmen der Behandlung altbekannte Gesetzmäßigkeiten nicht außer Acht gelassen werden, welche einem „Rezidiv“ Vorschub leisten21. Als Rezidiv wird dabei der Rückgang einer artifiziell erzielten Veränderung in Richtung des Ausgangsbefunds definiert, wenn nicht mit, sondern gegen die individuelle Natur und damit bekannte, essenzielle Retentionskritierien40 und Stabilitätsfaktoren32 gearbeitet wurde. Insofern wäre es hier gerechtfertigt, von einer falschen Behandlungsplanung zu reden50. Auch entsprechende Retentionsmaßnahmen wie der Einsatz festsitzender lingualer Drahtretainer, die in solchen Fällen eine scheinbare absolute Stabilität versprechen, können nur eingeschränkt der physiologischen Tendenz des stomatognathen Systems in Richtung Natur entgegenwirken, insbesondere dann, wenn die interkanine Distanz im Unterkiefer verändert wurde42,56.

Nach der bisherigen, „alten“ Vier-Phasen-Therapie, primär Prävention mit umfassender Aufklärung und sekundär mit aktiver Hilfe unterschiedlicher Therapievarianten, hilft zudem die Berücksichtigung einer fünften Therapiephase (vgl. Abb. 1) im natürlich alternden, späten Erwachsenengebiss, dieses so weit wie möglich zu erhalten. Auch im Alter sollte ein individuelles kaufunktionelles und ästhetisches Optimum das Ziel jeglicher therapeutischen zahnärztlichen und kieferorthopädischen Bemühungen sein. Deren Art, Umfang und Ausmaß werden von der Natur des Patienten, also von seiner spezifischen Diagnose vorherbestimmt, wobei therapeutische Interventionen stets von außen nach innen sowie zuerst muskulär-funktionell, dann skelettal, dentobasal und letztendlich dentoalveolär in der Reihenfolge transversal – vertikal – sagittal erfolgen sollten40 (vgl. Abb. 1).

Ein Beitrag von Prof. Dr. Ingrid Rudzki, München, und PD Dr. Christian Kirschneck, Regensburg

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Quintessenz Zahnmedizin 11/18 Kieferorthopädie Zahnmedizin

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