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Durch dentoalveoläre Kompensation beider Kiefer konnte hier ein chirurgischer Eingriff vermieden werden

Klinische und radiologische Ausgangssituation vor Beginn der kieferorthopädischen Behandlung.

Autorin Dr. Susanna Isabel Richter stellt in ihrem Beitrag für die Kieferorthopädie 3/2022 die Behandlung einer erwachsenen Patientin mit einem ausgeprägten Kreuzbiss vor, der mit einer vollständig individuellen lingualen Apparatur nichtchirurgisch im Sinne einer dentoalveolären Kompensation korrigiert wurde.

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Einleitung

Die Behandlungsoptionen bei Kreuzbiss sind abhängig vom Alter des Patienten. Während bei sehr jungen Patienten in der ersten Wechselgebiss­phase noch eine Oberkieferdehnplatte zur transversalen Entwicklung der Maxilla wirksam ist, werden bei Jugendlichen oder jungen Erwachsenen (bis ca. 25 Jahre) häufig sehr rigide Erweiterungsapparaturen konservativ eingesetzt. Bei älteren Patienten hingegen wird oftmals eine chirurgisch unterstützte Gaumennahterweiterung durchge­führt, welche jedoch mit einem erheblichen Mehraufwand sowie einem vermeidbaren Risiko eines chirurgischen Wahleingriffs vergesellschaftet ist. Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang, dass mittelfristig nicht viel von der operativ erreichten skelettalen Korrektur erhalten bleibt1,2. Diese Aspekte sollten bei der Fallplanung und Aufklärung des Patienten nicht unberücksichtigt bleiben. Wird der Kreuzbiss darüber hinaus nicht nur durch die transversale Unterentwicklung der Maxilla, sondern gleichzeitig auch durch einen viel zu breiten Unterkieferzahnbogen hervorgerufen, hat sich eine dentoalveoläre Korrektur aus beiden Kiefern als besonders sinnvoll herausgestellt.

In diesem Zusammenhang zeigt sich ein lingualer Kraftansatzpunkt mechanotherapeutisch als äußerst günstig. Das liegt darin begründet, dass sich die Steifheit eines Bogens umgekehrt proportional zu seiner Länge verhält. Das heißt, bei gleicher Expansion der Bögen erzeugt der linguale mehr Kraft, da er im Vergleich zu einem bukkalen Bogen im gleichen Zahnbogen deutlich kürzer ist3. Aus diesem Grund zeigt das vorliegende Patientenbeispiel das Vorgehen mit der vollständig individuellen lingualen WIN-Apparatur (Fa. DW Lingual Systems, Bad Essen). Zusätzlich verringert die WIN-Apparatur das ansonsten stark erhöhte Kariesrisiko während der Behandlung mit einer festsitzenden Apparatur deutlich4,5, da diese die Anfälligkeit für Dekalzifikationen um den Faktor 5 reduziert6. Ursächlich hierfür ist neben der Tat­sache, dass die Lingualflächen der Zähne per se eine geringere Kariesanfälligkeit zeigen7, der Umstand, dass die WIN-Apparatur im Gegensatz zu konventionellen Brackets über vollständig individualisierte Bracketbasen verfügt, die an­nähernd die gesamte Lingualfläche bedecken und somit vor Plaqueretention an der Zahnoberfläche schützen6. Gleichzeitig stellt die WIN-Apparatur in diesem Hinblick eine ästhetische Alternative zur kon­ventionellen Vestibulärbehandlung dar8,9. Da­rüber hinaus zeichnet sie sich durch eine höhere Präzision der Slotdimension10 im Vergleich zu konventionellen Lingualbrackets11,12 oder Bukkal­brackets13 aus, was unter anderem eine exzellente Torquekontrolle während der gesamten kiefer­orthopädischen Behandlung – unabhängig von der anfangs bestehenden Malokklusion – ermöglicht14. Diese Präzision der Apparatur spiegelt sich in der extrem hohen Qualität des Behandlungsergebnisses wider15. So kann mit der WIN-­Apparatur eine Einstellung der Zähne im Mund des Patienten im Vergleich zu der Planung am Modell mit einer Genauigkeit von 1 mm und 4° realisiert werden16–19. Auch die hohe Behandlungsgenauigkeit von vollständig individuellen lingualen ­Apparaturen bei einer Expansion des Oberkiefers durch linguale Expansionsbögen wurde bereits bestätigt. Ein Vergleich der mit der WIN-Apparatur realisierten Behandlungsergebnisse im Hinblick auf das als Goldstandard geltende „American Board of Orthodontics (ABO) objective grading system (OGS)” zeigte, dass unabhängig von der Schwere der Malokklusion durchweg exzellente Okklusionen eingestellt werden konnten, die die sehr hohen Standards der Boardzertifizierung ­erreicht hätten20.

Kasuistik

Eine 28-jährige Patientin stellte sich zur kieferorthopädischen Behandlung vor. Bei der klinischen Untersuchung zeigte sich intraoral eine annähernd neutrale Verzahnung im Seitenzahnbereich mit einem knappen Overbite und Overjet und einer Unterkiefer-Mittellinienverschiebung nach links, bereits bestehenden Rezessionen in Regio 16 und 26, einem Einzelzahnkreuzbiss in Regio 22/32 ­sowie einem Frontengstand im Ober- und Unterkiefer. Zusätzlich wies die Patientin einen ausgeprägten bilateralen Kreuzbiss auf, der sowohl durch die transversale Unterentwicklung des Ober­kiefers als auch den viel zu breiten Unterkieferzahnbogen bedingt war (Abb. 1a bis g).

Zunächst wurde die transversale Erweiterung mittels einer rigiden Erweiterungsapparatur konservativ angestrebt (Abb. 2). Diese sollte zweimal am Tag gestellt werden. Nach zwei Tagen stellte sich die Patientin aufgrund einer erhöhten Schmerzsensation im Bereich der Nasenwurzel erneut vor. Klinisch konnte transversal keine Veränderung festgestellt werden. Aus diesem Grund wurde die rigide Erweiterungsapparatur entfernt und die Kreuzbissüberstellung durch die Bogen­koordination im Ober- und Unterkiefer anvisiert. Die Behandlung wurde mit der vollständig individuellen lingualen WIN-Apparatur durchgeführt. Die Eingliederung der lingualen Apparatur erfolgte im indirekten Klebeverfahren. Entsprechend der Empfehlung der Herstellerfirma zur Eingliederung der Lingualapparatur bei erwachsenen Patienten zur optimalen Eingewöhnung wurde auch hier die Zahnspange zweizeitig mit vierzehntägigem Abstand eingesetzt. Als Besonderheit wurde jedoch im vorliegenden Patientenbeispiel zunächst der Oberkiefer beklebt. Dieses Vorgehen hat sich bei einer bestehenden frontalen Kreuzbisssituation oder aber auch bei vorab transversal erweiterten Oberkieferzahnbögen als besonders ­günstig herausgestellt, da andernfalls ein Vorkontakt des noch unbeklebten Oberkieferfrontzahns mit dem antagonistischen Lingualbracket zur ­minimalen Intrusion des Inzisivus im Oberkiefer führen könnte, welche die Passgenauigkeit der Übertragungsschiene beim Einkleben herabsetzen würde. Gleichzeitig wird bei einem solchen Vorgehen die Tragezeit der Miniplastschiene zum Retinieren der Zahnposition nach Entfernung der GNE zwischen Abformung zur Herstellung der vollständig individuellen WIN-Apparatur und Eingliederung verkürzt. Zur Vermeidung von okklusalen Inter­ferenzen wurden halbokklusale Pads auf die zweiten Molaren beider Kiefer angebracht, die aber aufgrund der offenen Bisskonfiguration massiv ­reduziert wurden.

Ziele der ersten Behandlungsphase waren die Nivellierung der Zahnbögen, Auflösung der Front­engstände mittels approximaler ­Schmelzreduktion, Aufrichtung der Oberkieferfrontzähne und Besei­tigung der Einzelzahnfehlstellungen. Hierfür wurden in beiden Kiefern 0.012“ SE-NiTi-Rundbögen (Fa. DW Lingual Systems) bis zum ersten Molaren inseriert. Aufgrund des ausgeprägten Engstandes im Oberkiefer wurde der Rundbogen zunächst hinter die Flügel der Lingualbrackets im Frontzahnbereich und noch nicht direkt in den Slot gelegt. Dieses Vorgehen erweist sich als besonders vorteilhaft, wenn andernfalls eine Deflektion des NiTi-Bogens von mehr als 90° zwischen zwei Slots zu erwarten wäre. In diesem Fall ist die Rückstellkraft der superelastischen Bögen deutlich reduziert. Als weitere Besonderheit ist hier die ausgeprägte Mesiorotation des Zahnes 12 zu nennen, welche das sofortige Anbringen des WIN-­Brackets auf der Palatinalfläche unmöglich machte (Abb. 3). In solchen Fällen wird der rotierte Zahn entsprechend der Empfehlung der Herstellerfirma mithilfe eines 2-D-Clips (Forestadent Bernhard Förster GmbH) derotiert, bis palatinal ausreichend Klebefläche für das WIN-­Bracket vorhanden ist (Leveling und Aligning Typ 2). Anschließend erfolgte die Installation der NiTi-­ierkantbögen in der Dimension 0.016“ x 0.022“ NiTi bis zu den zweiten Molaren. Nach der Leveling- und Aligning-Phase wurden im Ober- und Unterkiefer Stahlbögen eingesetzt. Aufgrund der ausgeprägten Kreuzbisssituation wurde hier im Oberkiefer direkt der Stahlbogen mit maximaler Expansion (3 cm) und im Unterkiefer mit modera­ter Kompression (2 cm) gewählt. In dieser Phase begann die Patientin zur Unterstützung der trans­versalen Koordination intermaxilläre Criss/Cross-­Gummizüge (1/18“ heavy, 6oz, Reliance Orthodontic Product) im Seitenzahnbereich zu tragen. Nach Überstellung des Kreuzbisses wurde für das Finishing im Oberkiefer ein 0.018“ x 0.018“ ß-Titanium-Bogen (DW Lingual Systems) eingesetzt. Die Abbildungen 4a bis e zeigen die erfolgreiche transversale Korrektur im Ober- und Unterkiefer mithilfe der Expansions- und Kompressionsbögen. Der Oberkiefer konnte erheblich verbreitert werden. Der Unterkiefer wurde wie geplant insbesondere im posterioren Bereich verschmälert. In der Frontalansicht ist im Vergleich zum Ausgangsbefund keine übermäßige kompensatorische Inklination der Seitenzähne zu erkennen. Gleichzeitig haben sich die Gingivarezessionen im Bereich der ersten oberen Molaren nicht vergrößert. Die Behandlungszeit mit der WIN-Apparatur betrug 18 Monate (Abb. 4a bis g).

Retention

Zur dauerhaften Retention wurden im Ober- und Unterkiefer 4–4 Kleberetainer (Ortho-Dent Specials) eingesetzt. Zusätzlich wurden Ober- und Unterkieferplatten zum Halten der Transversalen angefertigt, die jede Nacht ­getragen werden sollen (Abb. 5).

Ein Beitrag von Dr. Susanna Isabel Richter, Bad Essen

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Quintessenz Kieferorthopädie 03/2022 Kieferorthopädie

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