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Einführung und Ergebnisse einer retrospektiven multizentrischen Kohortenstudie

Patientenfall aus Heidelberg: Erstvorstellung einer 45 Jahre alten Patientin (Parodontitis Stadium IV, Grad C) im Mai 1993. Klinisch zeigten sich 1993 eine generalisierte Blutung auf Sondieren, approximale Sondierungstiefen im Unterkiefer zwischen 2 und 8 mm, im Oberkiefer zwischen 4 und 9 mm. Die Oberkieferfront war auf­gefächert (Stadium IV). An Zahn 17 lag ein Furkationsbefall III. Grades von mesio- nach distopalatinal vor.

Es wird kontrovers diskutiert, wie Ergebnisse aus universitären Parodontitistherapien für die zahn­ärztliche Versorgung zu verallgemeinern sind. Deshalb wurde im Rahmen einer multizen­trischen retrospektiven Studie der Zahnverlust von Patienten untersucht, die an den vier deutschen Universitäts­zentren Kiel, Greifswald, Heidelberg und Frankfurt am Main eine systematische Par­odontitis­therapie erhielten. Ziel war es, Spezifikationen einzelner Behandlungskonzepte besser zu verstehen. Die Ergebnisse dieser Studien stellten die Autoren um Prof. Dr. Christian Graetz im Rahmen eines dreiteiligen Artikels für die Parodontologie vor, dessen erster Teil in Ausgabe 2/2022 veröffentlicht wurde. Es konnten 896 Patienten an vier Zentren zu Beginn, nach aktiver (APT) und unterstützender Parodontitistherapie (UPT) nachuntersucht werden. Trotz kohortenspezifi­scher Unterschiede, einschließlich der Länge des mittleren Nachbeobachtungs­zeitraums von 7 bis 18 Jahren, fand sich für alle Zentren ein niedriger jährlicher Zahnverlust von ≤ 0,15 Zähnen pro Patient während einer konzeptbasiert durchgeführten UPT. Folgerichtig muss die UPT patienten­individualisiert und regelmäßig erfolgen, um langfristig die parodontale Stabilität aufrechtzu­erhalten. Im Folgenden sollen einige therapiespezifische Details der jeweiligen Zentren einschließlich spezifischer regionaler Unterschiede zum besseren Verständnis und ergänzend zur ursprünglichen wissenschaftlichen Publikation praxisnah diskutiert werden. 

Originalpublikation: Graetz et al. „Systematische Parodontitistherapie im universitären Umfeld – Praxisrelevant oder nicht? – Teil 1. Einführung und Ergebnisse einer retrospektiven multizentrischen Kohortenstudie“ (Quintessenz Zahnmedizin 33:764−770). Der Beitrag wurde von den Autoren in Ergänzung zu Graetz C et al. J Dent 2020;94:103307 verfasst1.

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Einführung

Auch wenn Parodontitis durch eine fortschreitende Destruktion des Zahnhalteapparates charakterisiert ist, welche unbehandelt letztendlich zum Zahnverlust führen kann, so ist die Erkrankung doch in der Mehrheit der Fälle vermeid- und therapierbar. Es muss aber festgestellt werden, dass mit zunehmender Anzahl erhaltener Zähne in einer immer größer werdenden Subpopulation älterer Patienten die Zahl der parodontal erkrankten Zähne weiter zunehmen wird2. Dies erklärt zum Teil die hohe Erkrankungsprävalenz und stellt ein bedeutendes Gesundheitsproblem dar3, das es zu lösen gilt. Die systematische aktive Therapie (aktive Parodontitistherapie  [APT]; Therapiestufe 1 bis 3)4,5 und die regelmäßige unterstützende Parodontitistherapie (UPT)4,5 können das Risiko eines zukünftigen Zahnverlustes signifikant verringern6. Doch selbst wenn sowohl eine APT als auch eine regelmäßige UPT durchgeführt werden, ist der erfolgreiche Erhalt aller erkrankten Zähne nicht vorhersagbar7 und wird von einer Reihe verschiedener Faktoren beeinflusst8. Unter anderem werden spezifische Behandlungsphilosophien9 oder nationale Vorgaben in der Krankenversorgung für unterschiedliche Zahnverlustraten herangezogen. Auch werden die Übertragbarkeit universitärer Studienresultate auf die Praxis kon­trovers diskutiert und die damit verbundene Re­alisierbarkeit einer erfolgreichen Parodontitistherapie unterschiedlich bewertet. Vor dem Hintergrund der Praxisrelevanz fassen die Autoren daher die Ergebnisse ihrer Studie zum langfristigen Zahnerhalt an vier verschiedenen universitären Zentren (Kiel = KI, Greifswald = GW, Heidelberg = HD, Frankfurt am Main = F) in Deutschland2 zusammen.

Übersicht über patienten- und zahnspezifische Daten

Die in der Originalpublikation1 berichteten Er­gebnisse basieren auf einzelnen retrospektiven Auswertungen, deren multizentrische Analyse ursprünglich nicht vorgesehen war. Alle Patienten wurden zu Beginn (T0), nach APT7,10 (Therapiestufe 1 bis 3; T1) und UPT7,10 (T2) nachuntersucht sowie nach ehemals gültiger Klassifikation der Par­odontalerkrankungen von 199910 in chronische (CP) oder aggressive (AgP) Verlaufsformen unterteilt. Populationsspezifische Daten der 896 Patien­ten sind der Tabelle 1 zu entnehmen. Insgesamt waren zu T0 (Start der APT) 21.723 Zähne (Oberkiefer: 10.559, Unterkiefer: 11.164) vorhanden. Sowohl die Dauer von APT und UPT als auch die Anzahl der Besuche unterschieden sich zwischen den Zentren signifikant (p ≤ 0,001). Vergleiche auf Zahnebene zeigten zu T0 eine mittlere maximale Sondierungstiefe (ST) zwischen 4,65 (F) und 5,32 mm (KI). Diese unterschieden sich deutlich bei differenzierter Betrachtung erhaltener und ex­tra­hierter Zähne zu T0 (vgl. Tab. 1). Auch wurden insgesamt 5.178 Molaren nachuntersucht, von de­nen zwischen 39,1 (KI) und 64,8 Prozent (F) zu Beginn der APT einen Furkationsbefall (FB) aufwiesen.

Alle Patienten erhielten eine individualisierte systematische Parodontalbehandlung nach den spe­zifischen Protokollen der Studienzentren (Tab. 2). Eine adjuvante Antibiotikatherapie während der APT und/oder UPT wurde in 40,8 Prozent aller Fälle in HD (n = 71), 23,1 Prozent GW (n = 65), 15,1 Prozent KI (n = 59) und 16,3 Prozent F (n = 8, nur bei APT) durchgeführt (p < 0,001). Im Rahmen der APT reduzierten sich die ST in allen Zentren zu Beginn der UPT auf ≤ 3,51 mm (vgl. Tab. 1).

Zahnverlust während APT (T0 bis T1) und UPT (T1 bis T2)

Die Gründe für den Zahnverlust waren nicht auswert­bar, da einige Zähne alio loco entfernt wurden und/oder die Indikationen für die Ex­traktion/en nicht immer dokumentiert wurden. Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, wiesen die Patien­ten zu T0 eine vergleichbare durchschnitt­liche Anzahl von ca. 24 Zähnen auf (p = 0,27) und begannen die UPT (T1) mit einer mittleren Zahnzahl zwischen 23,1 ± 4,6 (GW) und 23,9 ± 4,6 (HD) je Patient. Hingegen unter­schied sich die Anzahl der während der APT extrahierten Zähne pro Patient signifikant zwischen den norddeutschen (KI, GW) und den südlicher gelegenen Zentren (F, HD), in denen signifikant weniger Zähne während der APT entfernt wurden (vgl. Tab. 1, p = 0,02).

Insgesamt betrug der Zahnverlust während der UPT 1,6 ± 2,5 Zähne pro Patient, wobei sich sowohl der Zahnverlust je Patient (0,9 [GW] bis 2,3 [KI] Zähne) als auch die mittlere jährliche Zahnverlustrate pro Patient (0,10 [F] bis 0,15 [HD] Zähne) zwischen allen Zentren signifikant voneinander unterschieden (Tab. 1, p < 0,001). Auch die Inzidenzraten für Zahnverlust in einer adjustierten Regressionsana­lyse unterschieden sich signifikant zwischen den Zentren und der Referenz (KI) sowohl während der UPT als auch in der gesamten Nachbeobachtungszeit (T0 bis T2), wohingegen diese Differenzen bei selektiver Betrach­tung von Patienten mit einer UPT-Dauer von mehr als 9 Jahren teils verschwanden (Tab. 2). Zu beachten ist, dass während der APT und UPT in allen Zentren nur eine Minderheit der Patienten (bis zu 10 Prozent) ≥ 7 Zähne verloren hat (Abb. 1).

Ein exemplarischer Fall eines Studienpatienten aus HD über einen Nachbeobachtungszeitraum von 20 Jahren bestätigte die geringe Zahnverlust­rate und deutete bereits darauf hin, dass die zum damaligen Zeitpunkt angewandten Therapie­konzepte, die sich nur in Details von den aktuellen Therapiekonzepten unterschieden, erfolgreich ein­gesetzt werden konnten (Abb. 2a bis d). Im zweiten und dritten Teil dieser Artikelserie (Parodontologie 3/2022 und 4/2022) werden sowohl die in dieser Unter­suchung eingesetzten wie auch die aktuellen Therapiekonzepte aller vier Studienzentren detailliert vorgestellt und die Praxis­relevanz abgeleitet.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Christian Graetz, Kiel, PD Dr. Amelie Bäumer-König, Bielefeld, Prof. Dr. Peter Eickholz, Franfurt am Main, Dr. Lukasz Jablonowski, PD Dr. Birte Holtfreter, beide Greifswald, Prof. Bernadette Pretzl, Heidelberg, Prof. Falk Schwendicke, Berlin, PD Dr. Hari Petsos, Soest

Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de

Quelle: Quintessenz Parodontologie 02/22 Parodontologie

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