Mit der neuen Gebührenordnung Ärzte, der GOÄneu, geht es ans Eingemachte. Man kann es auch das Selbstverständnis oder eine der relevanten Wurzeln eines Berufsstandes nennen. Auch wenn sich der innerärztliche Streit derzeit zuvorderst um die Bepreisung einzelner Leistungsziffern beziehungsweise -gruppen dreht, so geht die zugrundeliegende Problematik weit darüber hinaus. Denn mit der „SGBisierung“ der GOÄ wird ein Teil dessen, was einen freien (Heil-)Beruf ausmacht, mehr oder minder offiziell zu Grabe getragen.
Sollte also die GOÄneu in den nächsten Monaten trotz des Einspruchs respektive Vetos von mehr als 22 ärztlichen Verbänden nach dem nun angesetzten Clearingverfahren seitens der Bundesärztekammer und des nächsten Deutschen Ärztetags im Mai 2025 beschlossen werden, wird das nicht ohne Folgen für die Zahnärzteschaft bleiben können. Auch wenn die Bundeszahnärztekammer immer wieder offiziell erklärt, dass die GOÄneu keine Blaupause für eine Novellierung der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) sei: Angesichts der wirtschaftlichen Entwicklung in diesem Lande wird es aller Voraussicht nach nicht lange dauern, bis sich auch die Zahnärzteschaft (wieder) mit Begrifflichkeiten wie robuster Einfachsatz, Komplexziffern und Mengenbudget wird substantiell auseinandersetzen müssen.
Ärzte, PKV und Beihilfe in einem Sack
Um die Gemengelage auf Seiten der verfassten Ärzteschaft einordnen zu können, ist es sinnvoll, sich einige Entscheidungen in der Vergangenheit vor Augen zu führen. Es ist nun 13 Jahre her, dass der damalige Bundesgesundheitsminister Daniel Bahr, FDP, auf die glorreiche Idee kam, Bundesärztekammer, PKV-Verband und Beihilfe quasi in einen Sack zu stecken, damit man sich gemeinsam auf eine neue GOÄ einigen möge. Das war aus politischer Sicht ein geschickter Schachzug, der mehrere Fliegen mit einer Klappe schlug – angesichts der steten Kritik aus der Ärzteschaft an einer veralteten, die medizinische Entwicklung nicht abbildende Gebührenordnung und dem seit 1996 andauernden Gebührenstillstands trotz stetig steigender Kosten. Man saß als Verordnungsgeber via Beihilfe, wenn auch indirekt, immer mit am Verhandlungstisch und konnte das lang erprobte Spiel wie in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) spielen.
Schließlich – und das war das Perfide – ermöglichte die Politik mit diesem Vorgehen der Kostenerstatterseite, also PKV und Beihilfe, das Verhandlungsübergewicht – ähnlich wie den Krankenkassenverbänden in der GKV. Zudem würde so den staatlichen Kosteninteressen bereits während der Verhandlungen Rechnung getragen worden sein und so eine spätere politische Zustimmung einfach möglich.
Hinzu kommt, dass die GOÄneu nicht nur den aktuellen Leistungsstand der Medizin abbilden sollte, sondern gemäß Aussagen der Bundesärztekammer auch betriebswirtschaftlich aktuell kalkuliert werden sollte. Welcher Seite damit wohl die wesentlichen Argumente genommen wurden?
Dr. Uwe Axel Richter zu Gast bei „Dental Minds“
Die Gesundheitspolitik begleitet den Mediziner und Fachjournalisten schon seit Jahrzehnten, auch in der ärztlichen und zahnärztlichen Standespolitik ist er zuhause: Dr. Uwe Axel Richter. Für „Quintessence News“ nimmt er in seiner Kolumne alle 14 Tage aktuelle politische Themen kritisch unter die Lupe. Jetzt ist er zu Gast bei „Dental Minds“ und schaut mit Dr. Marion Marschall und Dr. Karl-Heinz Schnieder auf das, was sich in Gesundheits- und Standespolitik bewegt – oder auch nicht.
Vom gesundheitsreformerischen Dauerfeuer des amtierenden Bundesgesundheitsministers mit Krankenhausreform und mehr über die Möglichkeiten und Grenzen der zahnärztlichen Standespolitik bis zur AS Akademie, der Akademie für freiberufliche Selbstverwaltung und Praxismanagement in Berlin, erklärt und beleuchtet Richter im Gespräch die aktuellen Themen. Hier geht es zum Podcast.
Das Sack-Modell funktioniert
Und so kam es, wie es kommen sollte: Zwei Jahre später beschloss der Deutsche Ärztetag 2013 in Hannover eine entsprechende Rahmenvereinbarung. Und oh Wunder, die PKVen hatten ihre Grundforderungen durchsetzen können: Leistungskomplexe, Einfachsätze, eine gemeinsame Kommission genannt GeKo (Gecko wäre passender) und eine enge Begrenzung des Kostenanstiegs. Das Sack-Modell hatte funktioniert.
Dennoch brauchte es noch weitere zehn Jahre, einige Rejustierungen samt ärztlicherseits personeller Revirements, bis die aktuelle Version der GOÄneu Mitte September dieses Jahres an 165 ärztliche Verbände versandt werden konnte.
Auf dem Weg zur Einheitsgebührenordnung
Betrachtet man das vorliegende Ergebnis abseits der berufspolitischen Diskussionen, projiziert es in die derzeitigen bundespolitischen Kräfteverhältnisse und unterstellt, dass die GOÄneu in der vorliegenden Systematik und insbesondere mit den Änderungen im Paragraphenteil von der Bundesärztekammer beschlossen werden wird, kann man aufgrund der „SGBisierung“ der GOÄneu von einem wesentlichen Schritt hin zu einer Einheitsgebührenordnung sprechen. Und diese ist die wesentliche operative Voraussetzung für eine Bürgerversicherung. Die GOÄneu wäre damit ein wesentlicher Faktor für den Abriss des bestehenden dualen Systems und ein Grundstein für den Weg in die Bürgerversicherung.
Bürgerversicherung vor der Tür
Insoweit mag es wie Spökenkiekerei anmuten, dass das Thema Bürgerversicherung, einst das Lieblingsprojekt von SPD, Bündnis 90/Die Grünen und auch der Partei Die Linke, zeitgerecht politisch wieder auftaucht. Ob es angesichts der sich dramatisch negativ entwickelnden Finanzen der Sozialversicherungen – man denke nur an die „Pleitemeldung“ der Pflegeversicherung – bei der einhelligen Ablehnung der CDU bleibt, darf getrost bezweifelt werden. Wenn die Kassen leer sind (die wirtschaftliche Entwicklung spricht nicht dafür, dass man auf Selbstheilung hoffen dürfte) und mögliche „Koalitionspartner“ der Bürgerversicherung positiv gegenüberstehen, sollte man besser kein Geld auf die diesbezügliche Standhaftigkeit der CDU setzen. Nun war die Bürgerversicherung nicht Gegenstand des Koalitionsvertrags der Ampel. Hier konnte sich die FDP durchsetzen – aber wer will noch mit der FDP in näherer Zukunft rechnen?
PKV treibt „SGBisierung“ voran
Zur thematischen Vertiefung ein kurzes Zitat aus Wikipedia zum Stichwort Bürgerversicherung: „Die Bürgerversicherung bedeutet die Aufhebung des dualen Systems zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung im Leistungsbereich der Grundversorgung. Medizinische Sonderleistungen über die Grundversorgung hinaus sollen in den meisten Konzepten weiterhin durch private Zusatzversicherungen möglich sein.“
Dass das nicht im Sinne des dualen Krankenversicherungssystems sein kann, liegt auf der Hand. Und trotzdem hat die PKV die „SGBisierung“ der GOÄ maßgeblich vorangetrieben. Frei nach Radio Eriwan heißt die Antwort auf die Frage, warum sie dies tut: „Es kommt darauf an“. Die beiden entscheidenden Begrifflichkeiten im vorgenannten Zitat lauten nämlich „Grundversorgung“ und „private Zusatzversicherung“. Dieses vorausgeschickt, liegt die Frage auf der Hand, mit welchen Veränderungen des Geschäftsfelds sich die Versicherungswirtschaft in der privaten Krankenversicherung konfrontiert sieht.
Babyboomer ahead: Kostenexplosion in der Vollversicherung
Das Geschäft mit privaten Krankenzusatzversicherungen boomt. Mittlerweile haben 38,3 Millionen Bundesbürger eine Zusatzversicherung, Tendenz weiter steigend. Was man von den privaten Krankenvollversicherungen jedoch nicht sagen kann, ist doch deren Nettoneuzugang von 2012 bis 2022 negativ.
Kostensteigerungen deckeln nach dem GKV-Modell
Ganz anders verhielten sich dazu jedoch die Leistungsausgaben, die gemäß den Angaben des PKV-Verbands auch im ersten Halbjahr 2024 massiv angestiegen sind: Die Honorarausgaben für Ärzte in der ambulanten Versorgung stiegen um 5,4 Prozent auf 4,37 Milliarden Euro, im zahnmedizinischen Bereich betrug der Zuwachs 6,3 Prozent (auf 2,75 Milliarden Euro) und bei den Krankenhausleistungen wurden 5,06 Milliarden Euro (plus 6,7 Prozent) fällig. Auf zehn Jahre bezogen, erhöhten sich die Leistungsausgaben um plus 39 Prozent! Und die Babyboomer kommen zunehmend in das kostenintensivere Rentenalter. Unter diesem Aspekt macht die seitens der Versicherungswirtschaft gewollte Angleichung von GOÄ und dem Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) in der GKV durchaus Sinn.
Funktionärswunschdenken, Euphemismen und die harte Realität
Nun ist die Situation „EBM zu GOÄ“ in der Medizin nicht eins zu eins mit der Zahnmedizin vergleichbar, allein schon durch das Gefälle von Bema zu GOZ. Dennoch bleibt die Frage, was Begrifflichkeiten wie robuster Einfachsatz, Komplexgebühren, Budget (Menge) in einer Gebührenordnung zu suchen haben, die eben nicht durch das SGB V geregelt wird.
Wird die Begrifflichkeit „Budget“ verwendet, fliegt dem Bundesärztekammerpräsidenten Dr. Klaus Reinhardt, entscheidender Mitgestalter der GOÄneu, mit großer Wahrscheinlichkeit der metaphorische Draht aus der Mütze. Er verwendet in diesem Zusammenhang lieber das Wort „Prognose“ statt Budget. Doch er hat ein veritables Argumentationsproblem: Was unterscheidet einen vereinbarten Anstieg des Gesamtvolumens der PKV-Ausgaben von 13,2 Prozent für drei Jahre – das entspricht 1,9 Milliarden Euro (ca. 633 Millionen Euro pro Jahr) – faktisch von einem Budget? Also suggeriert er lieber eine „Anpassbarkeit“. Ohne despektierlich zu sein, fällt diese Argumentation in die Kategorie ärztliches Funktionärswunschdenken, allzumal vor(!) einer Ausgabenüberschreitung die Gemeinsame Kommission tätig werden wird.
Bahrs Sack und die Kostenneutralität
Wenn man das Warum und Wieso des Vorschlags der Bundesärztekammer für die GOÄneu verstehen will, kommt man in diesem Zusammenhang an dem alles bestimmenden Wort nicht vorbei: Kostenneutralität! Genau das war die wesentliche Intention des Bahr‘schen Sacks, als er BÄK, PKV und Beihilfe in eben jenen steckte. Und sich im übertragenen Sinne die Hände nicht an einer staatlichen Gebührenordnung schmutzig machen wollte.
Kostenneutralität – die innerärztliche Bombe
Und diese Kostenneutralität wollte man ärztlicherseits mit der Vorgabe „sprechende Medizin vor Technik“ erreichen. Doch diese Umschichtung zeitigt erhebliche innerärztliche Konsequenzen. Die ersten Probleme stehen ja durch die Ablehnung der GOÄ seitens vieler Berufs- und Fachverbände als Menetekel bereits an der Wand. Und deren Konsequenzen sind noch nicht absehbar. Hier gehört die betriebswirtschaftliche Kalkulation an die erste Stelle in der Diskussion, nicht Begriffe wie „Gerechtigkeit“. Und da tauchen viele Fragezeichen auf. Man fragt sich nämlich, wie die erhebliche finanzielle Abwertung der technisch-apparativen Leistungen um bis zu 40 Prozent betriebswirtschaftlich kalkuliert wurde, um die gleichzeitige Aufwertung (manche sprechen hier von bis zu 65 Prozent) zugunsten der sogenannten sprechenden Medizin finanzieren zu können.
Verteilungskämpfe unvermeidbar
Es entzieht sich meiner Vorstellung, wie in technisch dominierten Fächern mit entsprechender Kreditfinanzierung des für ihre angebotenen Dienstleistungen nötigen Equipments – seit 1996 ohne Preiserhöhung bei stetig steigenden Kosten und Inflation in Höhe von 49,2 Prozent – eine Preisreduktion von bis zu 40 Prozent möglich gewesen sein soll. Gab es schon einmal eine negativ gehebelte Preisreduktion? Wie in einer solchen Konstellation auch noch der technisch-diagnostische Fortschritt finanziert werden soll, bleibt gänzlich im Nebel der Zukunft verborgen.
Sollte eine weitere Leistungserbringung in den technisch dominierten Fächern zu derart abgewerteten Beträgen bei gleichzeitiger Einführung eines robusten Einfachsatzes mit erheblich limitierter Steigerungsfähigkeit darstellbar sein, fällt es schwer zu glauben, dass die Preisbildung in der Vergangenheit auf einer betriebswirtschaftlichen Basis erfolgt sein kann. Hier wird die Bundesärztekammer schnellstmöglich für Transparenz und Klärung sorgen müssen.
Noch mehr Salz in die Wunden
Apropos Einfachsatz: In der GOÄneu gibt es gemäß Reinhardt 5.595 Gebührenordnungsziffern, die sich in 4.202 Hauptleistungen und 1.393 Zuschläge aufteilen. Die Zuschläge werden also keinesfalls obige Preisabschläge ausgleichen können. Allerdings ist der Einfachsatz auch nicht immer so robust, wie die Bezeichnung suggeriert. Dieser soll nämlich bei Abrechnung im PKV-Basistarif oder bei Sozialversicherungsträgern unterschritten werden können.
Hinterher ist man immer schlauer
Wenn der kurz nach seiner Ministertätigkeit in den Vorstand der Allianz Versicherung gewechselte Daniel Bahr das alles so beabsichtigt haben sollte, kann man aus Kostenträgersicht nur den Hut davor ziehen. Und seine Vorgehensweise sollte als politisches Lehrstück gelten. Doch während für die Ärzteschaft nun wohl noch konstatiert werden kann, dass „man hinterher immer schlauer ist“, sieht es für die Zahnärzteschaft etwas besser aus. Hier gilt jetzt: Vorher ist man schlauer.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.