Wir leben in revolutionären Zeiten. Natürlich kommen einem diesbezüglich als erstes Corona und die Folgen in den Sinn. Doch sollte das nicht den Blick dafür verstellen, dass wir uns inmitten einer Revolution des Gesundheitswesens befinden.
Wer das Wort für unangemessen empfindet, hier die Definition des Dudens: Revolution bedeutet nicht nur (gewaltsamen) Umsturz einer politischen oder sozialen Ordnung, sondern auch Aufhebung oder Umwälzung der bisher als gültig anerkannten Gesetze oder der bisher geübten Praxis durch neue Erkenntnisse oder Methoden. Wem bei letzterem „Disruption“ und „Digitalisierung“ in den Sinn kommen, ist bereits mitten im Gesundheitswesen und den tiefgreifenden Umwälzungen für die Leistungserbringer (ein schreckliches Wort für jeden, der ärztlich tätig ist, aber in diesem Falle sehr passend) und die Patienten angekommen. Und das liegt nicht nur an der Flut von Gesetzen aus dem BMG – in dieser Legislatur bereits derer 20!
Selbstverwaltung ade
Blicken wir deshalb einmal zwei Jahre zurück. 2019 war das Jahr, als Jens Spahn im Stile eines Freibeuters in einer Nacht- und Nebelaktion die Gematik kaperte und zum Backbone der geplanten Veränderungen machte. Seitdem hält das BMG mit 51 Prozent die Mehrheit an der Gematik. Die Rolle der auf 49 Prozent gestutzten Altgesellschafter, der Leistungserbringer wie auch der Kassen, ist seitdem eine andere: Mitreden ja, entscheiden nein. Im Klartext: Selbstverwaltung ade!
Zwar blieb der Name Gematik, aber es kam zu einem radikalen Kurswechsel. Wohin es gehen sollte, hatten Jens Spahn und seine (ärztlichen) Mitstreiter Debatin und Müschenich ja in ihrem Buch, „APP vom Arzt“, bereits 2016 beschrieben. Soll also keiner sagen, dass man es nicht hätte wissen können.
Gematik gibt die Richtung vor
Dass dieser Weg auch ohne Konsens mit den Minderheitsgesellschaftern beschritten wird, wurde vor wenigen Wochen wieder einmal sehr deutlich, als die Gematik das Whitepaper „TI 2.0 – Arena für digitale Medizin“ veröffentlichte. Ob dieses laut den Minderheitsgesellschaftern unabgestimmt geschah oder man, wie der Geschäftsführer der Gematik, Dr. med. Leyck Dieken, maliziös zum Ausdruck brachte, das einstimmige Votum der Gesellschafterversammlung als sehr unterstützendes Signal wahrgenommen hat – Fakt ist, die Gematik gibt die Richtung vor, und damit ist auch klar, wer der Boss ist. Wen schert es schon, wenn dabei mal eben der den Zahnärzten und Ärzten mit heftigen Drohungen aufgezwungene Konnektor im wahrsten Sinne des Wortes zu Grabe getragen und das neue „Alles ist Software“-Zeitalter eingeläutet wird.
Was das bedeutet, erleben gerade die Apotheker beim Thema E-Rezept und dessen Folgen. Die Pressemeldung der Gematik vom 3. März 2021 bringt die Sachlage auf den Punkt. Zynisch? Entscheiden Sie selbst.
Gematik verteilt Eintrittskarten für neue Player
Unter der Überschrift „Karten für weitere Anwender der Telematikinfrastruktur – Gematik wird selbst Herausgeber für Heilberufsausweise und Institutionskarten. Auftrag geht an D-TRUST“ lässt die Gematik wortwörtlich folgendes verlauten: „Wir haben ein Herz – und vor allem: eine Eintrittskarte zur Telematikinfrastruktur – auch für die Anwendergruppen in unserem Gesundheitssystem, die nicht durch Standesorganisationen, also Kammern oder Verbände, mit dem elektronischen Heilberufsausweis und der Institutionskarte versorgt werden. Das sind beispielsweise die im EU-Ausland ansässigen Versandapotheken und die dort tätigen Apotheker oder auch die Einheiten des Sanitätsdienstes der Bundeswehr. Und es werden noch weitere Anwendergruppen hinzukommen. Mit dem Heilberufsausweis (HBA) beziehungsweise der Institutionskarte (SMC-B) erhalten diese Anwendergruppen Zugang zur Telematikinfrastruktur und zu digitalen Anwendungen, für die sie sich als berechtigte Akteure ausweisen müssen. Den Anfang werden die EU-Versandapotheken mit ihrer Teilnahme am E-Rezept ab Mitte dieses Jahres machen. Für alle diese Anwender handelt die Gematik gemäß ihrem gesetzlichen Auftrag (gemäß § 340 (4) SGB V) und agiert somit innerhalb der Telematikinfrastruktur einmal mehr nicht nur als Normierungsinstitution, sondern bald auch als verantwortlicher Kartenherausgeber. […] Dr. Florian Hartge, COO der Gematik, betonte: ‚Mit dieser Beauftragung steuern wir das letzte Teil des Puzzles bei und stellen damit sicher, dass alle Nutzergruppen an der Digitalisierung teilhaben können.‘“
Was das noch mit der Sicherstellung der jahrzehntelang propagierten Versorgung vor Ort oder der Arzneimittelsicherheit zu tun hat, muss man mir einmal erklären.
Das E-Rezept soll in 2021 sukzessive eingeführt und ab Anfang nächstens Jahres weitestgehend zur Pflicht werden. Und bis dahin werden dann auch die im EU-Ausland ansässigen Arzneimittelversender ihren Zugang zur Telematikinfrastruktur haben.
Wenn das keine (Industrie-)Revolution ist …
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.