Die flächendeckende Einführung des elektronischen Rezepts (E-Rezept) hatte das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) schon kurz vor dem Jahreswechsel nach heftiger Kritik aus der Ärzte- und Zahnärzteschaft auf unbestimmte Zeit verschoben. Jetzt wird auch die bereits angewendete elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) wieder auf Eis gelegt. Bundesgesundheitsminister Prof. Karl Lauterbach hat eigenen Angaben zufolge beide Vorhaben gestoppt.
Lauterbach war am Donnerstag, 3. März 2022, Gast beim „PraxisCheck“ der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Bei dem für den 4. März angekündigten und dann kurzfristig vorgezogenen Termin im Umfeld der Vertreterversammlung der KBV beantwortete der Minister vorab von Vertragsärzten und Psychotherapeuten eingereichte Fragen.
Was noch nicht 100-prozentig ausgereift sei, könne nicht in die Fläche gebracht werden, sagte er in der KBV-Veranstaltung am Donnerstagabend. Er wies auf die hohe Fehleranfälligkeit hin, auch sei der Nutzen nicht klar. „Wenn ich beispielsweise ein elektronisches Rezept ausstelle und muss die Quittung dafür noch gedruckt aushändigen – das kann noch nicht überzeugen.“
ePA so entwickeln, dass sie einen hohen Nutzen bringe
Die elektronische Patientenakte habe er nach seinen Erfahrungen in den USA schon Ende der 1990er-Jahre in Wahlkampfprogrammen der SPD gefordert und Anfang der 2000er-Jahre dann ins Gesetz gekommen. Eine gut ausgestaltete ePA bringe viele Vorteile. Was wirklich helfen würde, sei die Digitalisierung von Befunden und Untersuchungen, damit Ärzte beispielsweise bei Zweitmeinungen keine dicken Aktenordner durchforsten müssten. Nötig sei eine Suchfunktion, mit der Ärzte in der ePA abgelegte Befunde schnell scannen könnten, sagte er. „Es nützt mir aber nichts, wenn ich da nur PDF habe“, so Lauterbach. Bessere und schnellere Medizin, das müsse die ePA leisten, wie Lauterbach am Beispiel eines Patientenfalls darstellte. Er kündigte auch an, dass die Krankenhäuser viel stärker eingebunden werden sollten, als dies bislang vorgesehen sei.
eAU und E-Rezept bringen Ärzte und Patienten „nicht nach vorn“
Nachdem er sich einen Überblick verschafft habe, sei ihm klar geworden, dass viele Anwendungen noch nicht praxisreif seien. „Sie haben das ja nicht von mir gefordert“, so Lauterbach, aber er habe das E-Rezept und die eAU gestoppt, als er gesehen habe, dass das nicht ausreichend getestet sei. Der Arzt und der Patient müssten den Nutzen spüren. Elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung und elektronisches Rezept seien dagegen nicht die Applikationen, bei denen Ärzte und Patienten sagen würden, „das bringt uns jetzt nach vorn“, fuhr Lauterbach fort. Beide Anwendungen würden nach ausreichender Testung dennoch kommen. Den Zeitpunkt ließ der Minister noch offen.
Strategiebewertung im BMG – Anwender stärker einbeziehen
Lauterbach kündigte eine „Strategiebewertung“ in seinem Ministerium an. Es werde auch eine deutliche personelle Verstärkung der Abteilung geben. Mit Susanne Ozegowski von der Techniker Krankenkasse wechsele zum 1. April 2022 eine erfahrene Expertin auf den Posten der Abteilungsleitung. Ziel seien zunächst Applikationen, bei denen Patient und Arzt einen Nutzen spürten. Es sei nicht sein Ansatz, über die Anwender in den Praxen hinwegzugehen, sagte er auf entsprechende Fragen. Auch die Entwickler der PVS und der Krankenhausverwaltungssysteme sollen stärker einbezogen werden, kündigte er an.
Kollektiver Nutzen der Anwendungen im Fokus
„Ich kritisiere ja grundsätzlich meinen Vorgänger nicht. Das sind unterschiedliche Strategien gewesen. Da ging es darum, die Hardware und erste Anwendungen schnell auszurollen. Das ist aber nicht mein Ansatz. Mir geht es darum, dass es Anwendungen sind, bei denen die Anwender einen kollektiven Nutzen haben.“ Und es gehe ihm um die Vernetzung von ambulant und stationär, erklärte Lauterbach. Er stehe auch im Austausch mit dem Gematik-Chef Leyck-Dieken.Auch der Ansatz einer finanziellen Unterstützung bei der Etablierung der TI-Anwendungen gehöre zu seinen Überlegungen.
Die im Koalitionsvertrag vorgesehene Agentur für die Digitalisierung des Gesundheitswesens werde kommen, sei aber noch in der Ausgestaltung. Klar sei aber, dass die Strukturen so, wie sie jetzt sind – gefragt worden war nach der umstrittenen Gematik – nicht bleiben könnten, so der Minister. Konkretes könne er dazu aber zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht mitteilen. Weitere Themen des ausführlichen Gesprächs waren unter anderem der voraussichtlich nicht kommende Bonus für Medizinische Fachangestellte, die GOÄ, die Stärkung der Niederlassung und das Agieren von Fremdinvestoren im Gesundheitswesen.
Die vollständige Aufzeichnung der Veranstaltung ist als YouTube-Video auf dem Kanal „kbv4u“ abrufbar.
KBV-VV: Gematik muss Verantwortung übernehmen
Die Digitalisierung war auch eines der Top-Thema der Vertreterversammlung (VV) der KBV am 3. und 4. März 2022. Vor dem Hintergrund des jüngsten Datenschutzproblems in der Telematikinfrastruktur (TI) wurde die Gematik aufgefordert, ihrer gesetzlichen Verantwortung im Rahmen des Zulassungsprozesses gerecht zu werden. Ärzte, Psychotherapeuten und Patienten müssen sich unbedingt darauf verlassen können, dass die Nutzung der für die TI erforderlichen Komponenten keine Gefährdung ihrer sensiblen Daten bedeutet.
Die VV verlangt vom Gesetzgeber eine umgehende Klarstellung, dass die datenschutzrechtliche Verantwortung für zentrale TI-Komponenten bei den verantwortlichen Herstellern und der gematik als Prüf- und Zertifizierungsinstanz liege. „Allen Versuchen, diese Verantwortung den Ärzten und Psychotherapeuten zuzuordnen, muss eindeutig und abschließend die Grundlage entzogen werden.“
Die KBV erwartet zudem, „dass diejenigen TI-Komponenten, die von der Gematik für die Vertragsarztpraxen zugelassen sind, auch uneingeschränkt einsatzfähig sind“, heißt es in einer Resolution. Angesichts der Meldungen über Kartenlesegeräte, die im Zusammenspiel mit bestimmten eGK-Typen die Systeme in den Praxen zum Abstürzen bringen, müsse sich Gematik dafür verwenden, „dass die uneingeschränkte Funktionsfähigkeit in den Praxen bürokratie- und kostenfrei hergestellt wird“. Dazu gehört, dass die Kosten für die avisierten Aufsatzgeräte zur Behebung des Problems übernommen werden, so die KBV.
Mit Material der KBV.