Kinder und Jugendliche mit psychoemotionalen Störungen haben mehr Karies, Gingivitis und einen höheren zahnärztlichen Behandlungsbedarf als gesunde Gleichaltrige und sollten als Risikogruppe betrachtet werden. In Deutschland zeigt durchschnittlich etwa jedes fünfte Kind psychoemotionale Auffälligkeiten oder Störungen. Die hohen Prävalenzen deuten an, dass diese Patientengruppe häufig in den Zahnarztpraxen anzutreffen ist.
Da die unterschiedlichen Verhaltensauffälligkeiten die Behandlungsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit der Patienten beeinflussen, hat das zahnärztliche Behandlungsteam besondere Herausforderungen bei der Sicherstellung einer den Gesunden gleichwertigen Versorgung zu meistern. Bewährte Methoden der Verhaltensführung reichen oft nicht aus und müssen adaptiert werden. Mit adäquaten Reaktionen des Behandlungsteams kann es gelingen, trotz der speziellen krankheitsbedingten Verhaltensauffälligkeiten eine gute Behandlungsbereitschaft herzustellen – Empfehlungen geben PD Dr. Ina M. Schüler und Prof. Dr. Roswitha Heinrich-Weltzien in diesem Beitrag aus der Quintessenz Zahnmedizin 4/2020.
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Prävalenz psychoemotionaler Auffälligkeiten und Störungen bei Kindern und Jugendlichen
In Deutschland zeigen etwa 20 Prozent der Kinder und Jugendlichen psychische Auffälligkeiten und Störungen13,18, wobei Jungen häufiger als Mädchen und Stadtkinder häufiger als Gleichaltrige aus ländlicher Umgebung betroffen sind. Weiterhin wurden bei Kindern und Jugendlichen aus Familien mit einem niedrigen sozialen Status öfter psychische Auffälligkeiten beobachtet als bei Gleichaltrigen mit hohem sozialem Status18. Psychische Auffälligkeiten und Störungen beeinträchtigen das familiäre, schulische und erweiterte soziale Umfeld sowie die somatische Gesundheit und die Lebensqualität16,17. In bundesdeutschen repräsentativen Untersuchungen von 7- bis 17-jährigen Kindern und Jugendlichen wurden spezifische psychischen Auffälligkeiten erfasst: 10,0 Prozent haben Ängste, 7,6 Prozent Störungen des Sozialverhaltens, 5,4 Prozent Depressionen und 2,2 Prozent Aufmerksamkeitsdefizit-(Hyperaktivitäts-)Störungen (AD[H]S)18. Bemerkenswert ist hierbei die doppelt so hohe Prävalenz von Depressionen gegenüber der – in der Literatur und den Medien stärker beachteten – ADHS. Depressionen treten nicht nur im Erwachsenenalter auf, sondern auch immer häufiger im Kindes- und Jugendalter. In den westlichen Industrieländern schwankt die Prävalenz bei Grundschulkindern zwischen 1,9 und 3,4 Prozent, bei Jugendlichen zwischen 3,2 und 8,9 Prozent9.
Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen mit psychoemotionalen Auffälligkeiten und Störungen
Die Mundgesundheit von Kindern und Jugendlichen mit psychoemotionalen Auffälligkeiten und Störungen wurde bislang wenig erforscht, und Veröffentlichungen konzentrieren sich vorrangig auf die Krankheitsbilder ADHS und Autismus. Die Studienlage ist uneinheitlich: Während einige Publikationen über einen höheren Kariesbefall2,6,14,15,20 und eine schlechtere Mundhygiene berichten6,8,14,22, konnten andere keine signifikanten Unterschiede im Karies- und Plaquebefall zwischen Kindern und Jugendlichen mit und ohne ADHS oder Autismus beobachten3,4,12. Einen direkten Pathomechanismus, der erklärt, wie psychische Störungen schlechtere Mundgesundheitsparameter verursachen, scheint es nicht zu geben. Jedoch liegt nahe, dass typische Verhaltensmuster wie eingeschränkte Kommunikationsfähigkeit, Nachlässigkeit, zahnschädigende Ernährungsgewohnheiten, Nebenwirkungen von psychotropen Medikamenten, Ablehnung der zahnärztlichen Untersuchung und Behandlung, abnorme Schmerzempfindlichkeit oder Beeinträchtigungen des sozialen Kontaktverhaltens die Mundgesundheit indirekt beeinflussen können7.
In einer kontrollierten klinischen Studie untersuchte die Arbeitsgruppe der Autorinnen erstmals den Mundgesundheitsstatus von 6- bis 17-jährigen stationären psychiatrischen Patienten in Deutschland21. Das Auftreten von Karies und Gingivitis wurde bei stationären Kindern und Jugendlichen der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Universitätsklinikums Jena mit dem bei gesunden Gleichaltrigen verglichen. Die Kariesprävalenz und der Kariesbefall waren bei den psychisch kranken Kindern und Jugendlichen in beiden Dentitionen signifikant höher als bei gesunden Gleichaltrigen (Abb. 1). Patienten mit den psychiatrischen Diagnosen „Akute belastende Lebensereignisse“ (zum Beispiel Verlust einer liebevollen Beziehung, sexueller Missbrauch, beängstigende Ereignisse) und „Neurotische, Belastungs- und somatoforme Störungen“ (zum Beispiel Ängste, Phobien) waren am stärksten von Karies an den Milch- und bleibenden Zähnen betroffen, ebenso Patienten mit affektiven Störungen (z. B. Depression, bipolare Störung) an den bleibenden Zähnen (Abb. 2). Bei ihnen zeigte sich auch der höchste Anteil unbehandelter kariöser Läsionen (Abb. 3). Gingivitis wurde bei 56,8 Prozent der Patienten beobachtet und war mit einem signifikant erhöhten Kariesbefall der bleibenden Zähne assoziiert (Abb. 4).
Die Ergebnisse dieser Studie liefern Hinweise, dass insbesondere Kinder und Jugendliche, die akutem und chronischem Stress ausgesetzt sind, eine deutlich schlechtere Mundgesundheit haben. Auch hier scheinen die Stressoren indirekt die Mundgesundheit zu beeinflussen. In Stresssituationen fokussieren die betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie deren familiäres Umfeld vorrangig auf den Umgang mit den Stress auslösenden Faktoren. Eher triviale Dinge wie die tägliche Mundhygiene oder die zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchungen geraten aus dem Blickfeld und werden vernachlässigt. Im Schrifttum wird berichtet, dass sogenannte widrige Kindheitserfahrungen wie Misshandlung, Vernachlässigung, häusliche Gewalt, Scheidung der Eltern, psychische Erkrankung oder Gefängnisaufenthalt von Bezugspersonen, Exposition zu Drogen- oder Alkoholmissbrauch sowie ein niedriges Familieneinkommen als toxische Stressoren das Risiko für Karies und Zahnschmerzen deutlich erhöhen5,10.
Die hohen Prävalenzraten von psychischen Auffälligkeiten und Störungen bei Kindern und Jugendlichen sowie deren erhöhter Kariesbefall sprechen dafür, dass diese Patientengruppe in den Zahnarztpraxen nicht selten zu versorgen ist. Die Auswahl der zahnärztlichen Therapieoptionen sollte indikationsgerecht analog zu gesunden Kindern und Jugendlichen erfolgen und gegebenenfalls Nebenwirkungen psychotroper Medikamente auf die oralen Strukturen berücksichtigen. Voraussetzung für die Durchführung der Behandlungsschritte ist eine ausreichende Compliance.
Die psychoemotionalen Belastungen der Kinder und Jugendlichen führen zu verschiedenen abweichenden Verhaltensmustern, die das familiäre und soziale Umfeld, aber auch das zahnärztliche Behandlungsteam vor besondere Herausforderungen stellen19. Für eine erfolgreiche Versorgung sollte das Team in der Zahnarztpraxis typische Verhaltensweisen erkennen und adäquat darauf reagieren, um die Behandlungsbereitschaft aufzubauen oder zu verbessern.
Während des schrittweisen Aufbaus der Behandlungsbereitschaft beziehungsweise bei eingeschränkter Kooperationsfähigkeit können überbrückende und unterstützende Maßnahmen zum Kariesmanagement eingesetzt werden: noninvasive Kariesarretierung, restriktive Kariesexkavation, atraumatische restaurative Therapie, ultrakonservative Restaurationen oder die Eingliederung konfektionierter Stahlkronen mit der Hall-Technik (Abb. 5a bis c). Bei hoher Dringlichkeit und unzureichender Kooperationsfähigkeit ist zu erwägen, die zahnärztliche Behandlung in Sedierung bzw. Intubationsnarkose durchzuführen.
Herstellung der Behandlungsbereitschaft von Kindern und Jugendlichen mit psychoemotionalen Auffälligkeiten und Störungen
Gewöhnliche Maßnahmen zur Herstellung der Behandlungsbereitschaft wie Rapport, Tell-Show-Do-Methode, Körperkontakt, Distraktion, Stimmmodulation, Trance sowie verbale und nonverbale Kommunikationstechniken finden auch bei Kindern und Jugendlichen mit psychischen Störungen Anwendung, aber sie reichen oft nicht aus oder müssen adaptiert werden. Die Verhaltensauffälligkeiten dieser Patienten unterscheiden sich in Abhängigkeit von der Art der vorliegenden Störung(en) und sind von einer beachtlichen Diversität, der mit individuellen Herangehensweisen begegnet werden kann (Tab. 1). Von besonderer Bedeutung ist hier das Elterngespräch, um die beobachteten Verhaltensauffälligkeiten zu thematisieren, Hintergründe zu erfahren und die speziellen Methoden der Verhaltensführung zu erläutern.
AD(H)S
Kinder und Jugendliche mit AD(H)S haben eine komplexe neurobiologische Störung, wobei die neuronale Signalverarbeitung beeinträchtigt ist1. Man unterscheidet zwischen Formen mit Hyperaktivität (ADHS – Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) und ohne Hyperaktivität (ADS – Aufmerksamkeitsdefizit-Störung). In erster Linie haben die Betroffenen Probleme, sich zu konzentrieren. Der Behandler kann durch den bewussten Aufbau und das Beibehalten des direkten Blickkontaktes mit dem Patienten helfen, dass dieser länger fokussiert bleibt. Das verlangt viel Disziplin vom Behandler und von der Assistenz, die im Moment der Durchführung von Therapieschritten den Blickkontakt übernimmt und aufrechterhält (Abb. 6a bis c). Weiterhin sollte darauf geachtet werden, dass die Elemente der Tell-Show-Do-Methode bewusst nacheinander zur Anwendung kommen und dass gleichzeitiges Sprechen und Handeln vermieden wird. Dies erleichtert es dem Kind, sich auf jedes Element einzeln zu konzentrieren und die Informationen sequenziell zu verarbeiten.
Patienten mit AD(H)S können schlecht unterscheiden, welche Information wichtig ist und welche nicht. Dadurch entsteht eine Reizüberflutung, und ihr Auffassungsvermögen wird überfordert1. Deshalb ist es ratsam, ablenkende Reize wie beispielsweise Hintergrundmusik, Nebenaktivitäten und Gespräche im Behandlungszimmer zu reduzieren oder ganz zu vermeiden. Anwesende Personen sollten sich möglichst nicht auffällig bewegen oder Geräusche verursachen und Türen beziehungsweise Fenster geschlossen bleiben. Im Gespräch mit dem Patienten kann dem Konzentrationsmangel durch kurze, klare Ansagen oder Anweisungen mit wenigen, aber ausreichenden Informationen begegnet werden.
Die Betroffenen nehmen Informationen oft nur bruchstückhaft auf1. Deshalb empfiehlt es sich, zum einen langsam – wie in Zeitlupe – zu sprechen und zum anderen die Informationen zu wiederholen. Bei der Wiederholung ist darauf zu achten, dass der gleiche Wortlaut verwendet wird, denn wenn eine Umformulierung erfolgt, muss der Patient stets erneut versuchen, den Inhalt zu verstehen. Das führt zu Ermüdung, und die geringe Aufmerksamkeitsspanne wird unnötig strapaziert. Da es den Betroffenen äußerst schwerfällt, längere Zeit aufmerksam zu sein, wird empfohlen, nur kurze Interventionen durchzuführen oder längere Therapiemaßnahmen zu fraktionieren.
Betroffene mit Hyperaktivität zeigen häufig motorische Unruhe und Impulsivität1, die sich zu Jähzorn oder Tobsuchtsanfällen steigern kann. Wichtig ist hier, frühzeitig auf die motorische Unruhe zu reagieren, um einer Eskalation und möglichen Verletzungen des Patienten oder des Behandlungsteams vorzubeugen. Es hat sich bewährt, motorisch unruhigen Patienten eine sogenannte Zappelzeit zu gewähren: Zeiten des Stillliegens (zum Beispiel für die Untersuchung oder die Präparation) wechseln sich ab mit Zeiten des Zappelns (kurze Pausen zwischen den Therapieschritten). Eine Forderung wie „Jetzt halt doch mal still!“ bewirkt Stress und löst zumeist ein gesteigertes Bewegungsbedürfnis aus. Ebenfalls wird empfohlen, den Patienten in ruhigem, freundlichem, aber bestimmtem Ton klare Grenzen aufzuzeigen (zum Beispiel: „Du bleibst auf dem Stuhl sitzen, bis ich sage, dass du aufstehen darfst.“), was jedoch unbedingt erfolgen sollte, bevor sich eine Eskalation entwickelt.
Kinder und Jugendliche mit ADS, also ohne Hyperaktivität, wirken oft still, verträumt, phlegmatisch und unbeteiligt, sie trödeln, verzetteln sich und schaffen es nur schwer, etwas zu Ende zu bringen. Bei diesen eher unauffälligen Patienten sollten die geringe Aufmerksamkeitsspanne und das verminderte Konzentrationsvermögen durch ruhiges, aber enges schrittweises Begleiten der Behandlungsetappen berücksichtigt werden.
Kinder und Jugendliche mit AD(H)S springen auf Anregungen oder Reize sofort an. Deshalb ist es sehr wichtig, kooperatives Verhalten umgehend und nicht erst am Ende der Behandlungssitzung zu loben. Die Patienten reden oder handeln häufig ohne nachzudenken, woraus ein für das Umfeld unberechenbares Verhalten resultiert. Zudem leiden sie unter Stimmungsschwankungen, können sich schwer an Regeln halten und haben eine geringe Frustrationstoleranz1. Diese schlecht vorhersehbaren Verhaltensweisen werden durch das familiäre und soziale Umfeld nicht leicht toleriert, und die Betroffenen entwickeln sich vielfach zu Außenseitern mit wenigen oder keinen richtigen Freunden.
Auf der anderen Seite sind Kinder und Jugendliche mit AD(H)S oft sehr kreativ und intelligent. Nicht selten fühlen sie sich zurückgestoßen und ausgegrenzt. Das Behandlungsteam sollte durch ein freundliches und wohlwollendes Auftreten signalisieren: „Wir mögen dich!“ Dieses für die Betroffenen angenehme Gefühl der Akzeptanz ist eine wichtige Grundlage für den Aufbau einer langfristig guten Beziehung zwischen Patient und zahnärztlichem Team. Das Verständnis für die der Verhaltensauffälligkeiten zugrunde liegenden Störung hilft dem Behandlungsteam, die Impulsivität, die Aggression oder anderes Fehlverhalten des Patienten nicht persönlich zu nehmen, sondern eine ehrliche Empathie auszustrahlen.
Autismus
Kinder und Jugendliche mit Autismus (beziehungsweise Autismus-Spektrum-Störung) weisen in erster Linie Beeinträchtigungen der Fähigkeit zur sozialen Gegenseitigkeit auf, was vorrangig durch Defizite in der verbalen und nonverbalen Kommunikation sichtbar wird. Obwohl die Palette von Verhaltensauffälligkeiten sehr groß ist und individuelle Ausprägungen berücksichtigt werden müssen, sind unter anderem folgende Leitsymptome für Autismus-Spektrum-Störungen charakteristisch: Beeinträchtigungen der wechselseitigen sozialen Kommunikation und Interaktion, unübliche oder eingeschränkte Interessen und/oder rigide, stereotype und repetitive Verhaltensweisen11. Oft wirken diese Kinder und Jugendlichen, als ob sie in einer eigenen Welt leben, was dem Behandlungsteam den Zugang zu ihnen erschwert. Aus Elterngesprächen sollten die individuellen Vorlieben und Abneigungen des Patienten in Erfahrung gebracht werden, um damit einen auf Vertrautem basierenden Zugang aufzubauen.
Die Betroffenen vermeiden häufig den Blickkontakt, so dass dem Behandlungsteam dieser Anker zum Patienten nur selten zur Verfügung steht. Zahlreiche Patienten mit Autismus lehnen Körperkontakt ab, da sie extrem empfindlich reagieren. Ein Umarmen, Streicheln oder Festhalten am Arm kann nicht nur als unangenehm, sondern als schmerzhaft empfunden werden und zu einer heftigen Ablehnung des Behandlers führen. In der Behandlungssituation ist es grundsätzlich notwendig, den gewünschten Verzicht auf körperliche Nähe zu respektieren (Abb. 7). Es gibt aber auch Kinder und Jugendliche mit Autismus, die den Körperkontakt regelrecht suchen und genießen. Deshalb sollte das Behandlungsteam unter Vermeidung von Verallgemeinerungen im Elterngespräch den Umgang mit Körperkontakt thematisieren und dementsprechend handeln.
Es scheint so zu sein, dass der Kontakt zu Mitmenschen an Autismus Erkrankten generell wenig bedeutet und die Gefühle anderer sie nicht erreichen. Diese Ichbezogenheit11 und defizitäre Empathie sollte das Behandlungsteam berücksichtigen und sich direkt auf den Patienten und dessen zügige Behandlung fokussieren. Das begleitende Erzählen von Fantasiegeschichten ist hier ebenso fehl am Platz wie eine emotionsbasierte Motivation zu besserer Mundhygiene. Dagegen kann es vorteilhaft sein, das Kind wiederholt mit seinem Namen anzusprechen, gegebenenfalls auch unter Verwendung der dritten Person (zum Beispiel: „Der Manuel ist hier und setzt sich jetzt auf den großen blauen Liegestuhl.“).
Menschen mit Autismus ertragen nur schwer Veränderungen in ihrer Umgebung. Sie lieben Rituale, da durch die Ritualisierung die Flut von unbekannten Einflüssen reduziert wird, welche neue Situationen mit sich bringen11. Die Betroffenen erkennen Muster und wissen, wie sie darauf reagieren können beziehungsweise sollen. Das Behandlungsteam kann die Macht der Rituale sehr gut nutzen, um die Behandlungsbereitschaft des Patienten aufzubauen und bei jedem weiteren Termin zu festigen. Dabei spielen Details wie gleicher Raum, gleicher Behandler, gleicher Ablauf, gleiche Ansagen, gleicher Geschmack (zum Beispiel bei der Fluoridlackapplikation) und gleich wenig Wartezeit vor der Sitzung eine bedeutende Rolle. Der Aufbau von Ritualen erfordert viel Zeit und Geduld. Ein Anzeichen für die Etablierung eines Rituals kann sein, dass Manuel aus dem obigen Beispiel sich nach der Ansage „Der Manuel setzt sich jetzt auf seinen Platz.“ direkt auf den Behandlungsstuhl setzt.
Menschen mit Autismus reagieren – ebenso wie jene mit AD(H)S – häufig unvorhersehbar11. Bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus beobachtet man im Fall einer Reizüberflutung sogenannte Meltdowns. Hierbei handelt es sich um plötzliche, meist unangemessen heftige Ausraster, die für die Betroffenen und die Umgebung nicht ungefährlich sind. Da stereotype Verhaltensweisen und Bewegungsmuster dazu beitragen, die Reize aus der Umgebung zu verarbeiten, sollte man ihnen auch in der Behandlungssituation Raum geben, denn wenn diese Stereotypien unterdrückt werden, steigt das Meltdown-Risiko. Weiterhin lässt sich durch ruhiges, schrittweises und ritualisiertes Arbeiten eine Reizüberflutung vermeiden.
Depression
Die Depression ist eine multifaktoriell bedingte Gehirnerkrankung, und die durch sie ausgelösten organischen Veränderungen sind im Magnetresonanztomogramm nachweisbar. Neben genetischen und neurobiologischen Faktoren spielen psychosoziale Einflüsse eine bedeutende Rolle in der Entstehung von Depressionen. Dysfunktionale Eltern-Kind-Beziehungen, unzureichende Zuwendung, belastende Lebensereignisse wie der Verlust einer liebevollen Beziehung oder Armut begünstigen die Entwicklung einer Depression im Kindes- und Jugendalter. Ebenfalls wurde beobachtet, dass bei etwa einem Drittel der Kinder und Jugendlichen die AD(H)S (insbesondere mit primär aggressivem Verhalten) in eine Depression mündet23.
Die für das Erwachsenenalter typischen Hauptsymptome Herabgestimmtheit, Freudlosigkeit, Interessenverlust, Antriebslosigkeit, Müdigkeit und schnelle Ermüdbarkeit sowie die Nebensymptome Einschränkungen der Konzentration und Aufmerksamkeit, Unentschlossenheit, reduziertes Selbstwertgefühl, unangemessene Schuldgefühle, psychomotorische Agitiertheit oder Gehemmtheit, Schlafstörungen und Suizidgedanken beziehungsweise -absichten sind im Kindesalter kaum zu beobachten. Je jünger das Kind ist, umso mehr unterscheiden sich die Krankheitszeichen von der klassischen Symptomatik bei Erwachsenen23. Bei Kleinkindern imponieren neben Ein- und Durchschlafstörungen, ständigem Kränkeln und gestörtem Essverhalten reduzierte Ausdrucksfähigkeit, Spielunlust, Passivität sowie Weinen und Schreien ohne unmittelbare Auslöser. Außerdem zeigen sie häufig eine ungewöhnliche Anhänglichkeit und können schlecht allein sein. Dem Behandlungsteam in der Zahnarztpraxis fällt es sehr schwer, einen Rapport zum Kind aufzubauen, dessen Aufmerksamkeit oder Interesse mit Distraktionstechniken zu wecken oder das Weinen zu stoppen.
Im Vorschulalter persistieren das Weinen, die Hypomimie („Maskengesicht“ mit reduzierter Mimik) und die starke Anhänglichkeit. Die Kinder sind oft reizbar, leicht irritierbar und schnell durcheinanderzubringen. Deshalb sollte das Behandlungsteam Ablenkungen vermeiden und die Patienten durch langsames und strukturiertes Vorgehen führen. Trotz ihrer Freudlosigkeit sowie motorischen und kognitiven Passivität versuchen sie häufig, die Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen – auch durch aggressives Verhalten. In der Zahnarztpraxis sollten solche Patienten bewusst in den Mittelpunkt gestellt werden, indem man zuerst das Kind und danach die Eltern und/oder Geschwister begrüßt, Fragen erst an das Kind stellt und dann die Eltern ergänzen lässt und das Kind sofort für (kleine) Erfolge lobt.
Im Schulalter setzen sich das Weinen, die Traurigkeit sowie die Lust- und Antriebslosigkeit weiter fort. Mit wachsendem Desinteresse beginnt der soziale Rückzug. Merk- und Konzentrationsstörungen münden in schlechtere schulische Leistungen. Die Kinder machen sich Selbstvorwürfe, grübeln, verzweifeln und entwickeln spezifische und unspezifische Ängste. In schweren Fällen werden sie jähzornig, neigen zu Zwangshandlungen oder drücken ihren seelischen Schmerz mit Verzweiflungstaten aus. Sie sind auf der Suche nach Aufmerksamkeit, Trost und Halt.
Das Behandlungsteam kann Zuwendung und Fürsorge ausstrahlen, indem es dem Kind zeigt: „Wir mögen dich und kümmern uns gern um deine Mundgesundheit.“ Geduld und Ritualisierung geben den Kindern Halt, und ein Lob der Kooperation oder des Zähneputzens stärkt das schwache Selbstwertgefühl. Es ist wichtig, die Gefühle der betroffenen Kinder ernst zu nehmen. Sätze wie „Jetzt reiß dich doch mal zusammen!“ oder „Jetzt sei doch mal fröhlich!“ sind unangebracht. Ein depressives Kind ist nicht faul, aggressiv oder unerträglich, weil es so sein will, sondern es ist krank und benötigt Hilfe. Mit dem Verständnis für die Symptomatik kann der Zahnarztbesuch so gestaltet werden, dass er vom Kind als positive Erfahrung erlebt wird und dazu beiträgt, dass Recalltermine zuverlässiger wahrgenommen werden.
Fazit
Kinder und Jugendliche mit psychischen Auffälligkeiten und Störungen haben eine schlechtere Mundgesundheit und insbesondere mehr unbehandelte Karies als gesunde Gleichaltrige. Wenn das Behandlungsteam die psychische Symptomatik kennt und versteht, kann es individualisierte Methoden der Verhaltensführung entwickeln, um die Behandlungsbereitschaft und Kooperationsfähigkeit der Patienten zu optimieren.
Ein Beitrag von PD Dr. Ina M. Schüler und Prof. Dr. Roswitha Heinrich-Weltzien, beide Jena
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de