Die Weiterentwicklung der fachlichen Grundlagen der Funktionsdiagnostik betrifft mitunter auch die Neuverortung von bislang anders verorteten oder auch in anderen Kausalzusammenhängen systematisierten Entitäten dieses Fachbereichs.
Die Deutsche Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT) hat daher gemeinsam mit der DGZMK und ca. drei Dutzend Fachgesellschaften 2019 die erste AWMF-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung des Bruxismus“ veröffentlicht – direkt in der höchsten Entwicklungsstufe S 3 (Registernummer 083-027 vom 02.05.2019). In dieser Leitlinie wird der Bruxismus als gegebenenfalls pathologisches eigenständiges Geschehen anerkannt und rückt damit gleichsam neben die craniomandibuläre Dysfunktion.
Zur Diagnostik des Bruxismus hat eine Arbeitsgruppe der DGFDT – parallel zur Entwicklung der Leitlinie – auf Grundlage der aktuellen Literatur den Bruxismus-Screening-Index (BSI) entwickelt. Eine solche fachliche Umschichtung muss auch Auswirkungen auf die Liquidation der Diagnostik des Bruxismus haben – welche, beschreibt der nachfolgende Beitrag.
Dieser Beitrag stammt aus der „Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion“ (CMF) der Quintessenz Verlags-GmbH. Die Zeitschrift berichtet bilingual in Deutsch und Englisch über neue Entwicklungen in Klinik und Forschung. Sie nimmt aktuelle Original- und Übersichtsarbeiten, klinische Fallberichte, interessante Studienergebnisse, Tipps für die Praxis, Tagungsberichte sowie Berichte aus der praktischen Arbeit aus der gesamten Funktionsdiagnostik und -therapie auf. Vierteljährlich informiert sie über Neuigkeiten aus den Fachgesellschaften und bringt aktuelle Kongressinformationen und Buchbesprechungen. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.
Die Reform der deutschen Gebührenordnung 2012 hat nur in wenigen Bereichen der Zahnheilkunde die neuen Entwicklungen der jeweiligen Fachgebiete inhaltlich berücksichtigt. In praktisch jedem Bereich der Zahnheilkunde finden sich daher neue Behandlungsmaßnahmen, die von den Gebührenziffern im Gebührenverzeichnis der GOZ 2012 nicht abgedeckt sind. Besonders auffällig ist die Diskrepanz zwischen der fachlichen Weiterentwicklung einerseits und deren Abbildung im Leistungsspiegel der Gebührenordnung im Bereich der zahnärztlichen Funktionsdiagnostik und Funktionstherapie; hier wurde der Fortschritt des Wissens und der resultierenden klinischen sowie apparativen Techniken fast komplett ignoriert. Dies hat umso mehr dann zu gelten, wenn sich fachliche Weiterentwicklungen erst dann ergeben, nachdem die Gebührenordnung schon wieder eine Weile gealtert ist. Mittlerweile ist die sogenannte „neue GOZ“ immerhin schon wieder zehn Jahre alt.
Vor dem Hintergrund der gesetzlich geforderten Erbringung der Zahnheilkunde auf Grundlage des aktuellen Stands der Wissenschaft lässt dies Zahnärzten keine andere Möglichkeit als den Rückgriff auf das hierfür vorgesehene Verfahren der Analogberechnung. Der nachfolgende Beitrag schildert daher den Bruxismus-Screening-Index (BSI) der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT) von 2019 und erläutert dessen Berechnungsmodus gemäß Paragraf 6 Abs. 1 GOZ.
Bruxismus
Bruxismus wurde lange Zeit als Teil der craniomandibulären Dysfunktion (CMD) angesehen. So interagierte das von der DGFDT 2001 mit einem Tagungsbestpreis prämierte Diagnoseschema von Experten aus den Universitätszahnkliniken Berlin, Düsseldorf, Greifswald, Hamburg und Leipzig die „Parafunktion Pressen“ und die „Parafunktion Knirschen“ als Bestandteile der Hauptgruppe „Okklusopathie“. Die lange Zeit akzeptierte Begründung dafür war die Überlegung, dass ohne Okklusionskontakt das Pressen und Knirschen in der Regel nicht zustande kommen. Die craniomandibuläre Dysfunktion fungierte insofern bisher gleichsam als Sammelbegriff für alle Funktionsstörungen des craniomandibulären Systems.
Dies hat sich seit Publikation der internationalen Bruxismusdefinition im Jahre 20131, dem internationalen Bruxismuskongress in München 2015 und der Veröffentlichung einer aktualisierten Definition 20182 schrittweise geändert. Die Definition von 2013 spezifizierte den motorischen Aspekt und die Unterscheidung von Schlaf- und Wachbruxismus wie folgt1: „Bruxismus ist eine wiederholte Kiefer-Muskel-Aktivität, charakterisiert durch Pressen und Knirschen mit den Zähnen und/oder Anspannen und Klappern des Unterkiefers. Es werden zwei tageszeitliche Manifestationen unterschieden: Schlaf- und Wachbruxismus.“
Die Aktualisierung im Jahre 2018 ergänzte sinngemäß, dass Bruxismus auch ohne Zahnkontakt möglich ist und vorkommen kann.
Craniomandibuläre Dysfunktion
Die neue Definition der CMD durch die DGFDT hingegen unterscheidet sich davon komplett2: „Craniomandibuläre Dysfunktion umfasst Schmerz und/oder Dysfunktion. Schmerz tritt in Erscheinung als Kaumuskelschmerz und/ oder Kiefergelenkschmerz sowie als (para)funktionell bedingter Zahnschmerz. Dysfunktion kann in Erscheinung treten in Form von:
- schmerzhafter oder nicht schmerzhafter Bewegungseinschränkung (Limitation), Hypermobilität oder Koordinationsstörung [auf Unterkieferbewegungen zielender Aspekt],
- schmerzhafter oder nicht schmerzhafter intraartikulärer Störung [auf das Kiefergelenk zielender Aspekt],
- die Funktion störenden Vorkontakten und Gleithindernissen [auf die Okklusion zielender Aspekt].“
Die DGFDT hat daher gemeinsam mit der DGZMK und ca. drei Dutzend Fachgesellschaften 2019 die erste AWMF-Leitlinie „Diagnostik und Behandlung des Bruxismus“ veröffentlicht – direkt in der höchsten Entwicklungsstufe S 3 (Registernummer 083-027 vom 2. Mai 2019)3. In dieser Leitlinie wird der Bruxismus als gegebenenfalls pathologisches eigenständiges Geschehen anerkannt und rückt damit gleichsam neben die craniomandibuläre Dysfunktion. Die Leitlinie betont dabei ausdrücklich, dass es enge Bezüge zwischen beiden Entitäten beziehungsweise Krankheitsbildern gibt und dass insbesondere auf der Grundlage von Bruxismus eine craniomandibuläre Dysfunktion entstehen oder verstärkt werden kann, jedoch keineswegs muss.
Der Bruxismus als eigenständige Entität kann bei hoher Intensität – nachgewiesen durch einen hohen Indexwert – zu verschiedenen Folgeproblemen führen, darunter craniomandibuläre Dysfunktionen und/oder Zahnverschleiß. Zumindest der Zahnverschleiß hat nach Studienlage an Häufigkeit deutlich zugenommen, wobei daran auch Erosionensfolgen beteiligt sind .
Diagnostik des Bruxismus
Die Diagnostik des Bruxismus als eigenständige Entität erfolgt nach der Bruxismus-Leitlinie prinzipiell in drei verschiedenen Validitätsstufen:
- möglicher Bruxismus,
- wahrscheinlicher Bruxismus und
- sicherer Bruxismus.
Die Leitlinie führt aus, dass zur Bestätigung von sicherem Bruxismus neben der Befragung des Patienten und der klinischen Befunderhebung zusätzlich eine polysomnographische Untersuchung erforderlich ist. Diese wiederum ist so aufwändig und die Möglichkeiten für die Durchführung sind so begrenzt, dass in der Diagnostik des Bruxismus diese Untersuchungsform auf wissenschaftliche Untersuchungen begrenzt bleiben muss. In den Zahnarztpraxen bleibt daher die Diagnostik von Bruxismus auf die Stufen des möglichen und des wahrscheinlichen Bruxismus beschränkt.
Bruxismus-Screening-Index (BSI)
Zur Implementierung dieser Diagnostik in der zahnärztlichen Praxis hat die DGFDT daher eine entsprechende Untersuchung entwickelt und beschrieben. Die einzelnen Untersuchungsinhalte sind in verschiedenen Studien wissenschaftlich gut belegt. Neu ist deren Zusammenfassung als eine Gesamtuntersuchung, dem Bruxismus-Screening- Index (BSI), welcher durch eine Gesamtbewertung abgeschlossen wird. Diese erfolgt, vergleichbar dem Vorgehen beim parodontalen Screening-Index (PSI) durch Ermittlung eines Indexwertes.
Der Bruxismus ist häufig eine unbemerkte Aktivität beziehungsweise Pathologie, die in der Regel nicht mit Schmerzen verbunden ist. Dies führt häufig dazu, dass sie über lange Zeit unbemerkt bleibt. Da mit zunehmender Schwere des Bruxismus eine Therapienotwendigkeit wahrscheinlicher und deren Behandlung auch schwieriger wird, ist die Früherkennung des Bruxismus umso wichtiger.
Diesem Ziel dient der Bruxismus-Screening-Index. Der BSI ist eine einfache Methode, die Wahrscheinlichkeit des Vorliegens von Bruxismus und dessen Krankheitsbedeutung zu bewerten. Das Untersuchungsverfahren ist als BSI von der DGFDT veröffentlicht worden und damit für die zahnärztlichen Praxen verfügbar. Die Erhebung des BSI basiert auf der Erhebung von drei Anamnesen und vier Befunden. Diese sind jeweils mit unterschiedlichen Bewertungen versehen. Die einzelnen Bewertungen sind im Befundbogen „Bruxismus-Screening-Index“ der DGFDT enthalten. Aus der Erfassung der „positiven“ Merkmale ergibt sich dabei ein Indexwert. Sofern der Indexwert bei 1 liegt bedeutet der Hinweis, dass Bruxismus im Einzelfall zumindest „möglich“ ist. Bei einem Indexwert von 2 ist das Vorliegen von Bruxismus „wahrscheinlich“.
Das abgebildete Formblatt gibt den Bruxismus- Screening-Index wieder (Abb. 1). Die Autorengruppe der DGFDT hat auf Seite 2 eine zusätzliche Anleitung zur Durchführung der Untersuchung veröffentlicht.
Neben der Erhebung des BSI kann es angezeigt sein, ein Screening auf erhöhten Zahnverschleiß (Analogleistung) als mögliche Folge von Bruxismus und Erosionen durchzuführen sowie nach Anzeichen einer craniomandibulären Dysfunktion zu suchen, sei es mittels eines CMD-Screening (Analogleistung) oder einer klinischen Funktionsanalyse (vgl. GOZ-Nr. 8000) und weiteren funktionsdiagnostischen Verfahren (vgl. GOZ-Nr. 8010ff.).
Abrechnung des BSI
Der Bruxismus-Screening-Index wurde auf Grundlage der internationalen Definition des Bruxismus und der darauffolgenden Entwicklung der Bruxismus-Leitlinie im Jahr 2019 entwickelt.
Zum Zeitpunkt der Entwicklung der deutschen Gebührenordnung für Zahnärzte im Jahr 1988 und deren Revision im Jahr 2012 waren weder die entsprechenden Definitionen bekannt noch der Bruxismus-Screening-Index entwickelt beziehungsweise veröffentlicht. Die Untersuchung kann daher weder als Bestandteil einer anderen Leistung noch für sich genommen im Gebührenverzeichnis der Gebührenordnung für Zahnärzte enthalten sein. Da der BSI zudem in einer definierten Auswertung des Erkrankungsrisikos mündet, handelt es sich um eine in sich geschlossene selbstständige Leistung. Diese wurde zudem von der DGFDT als der zuständigen wissenschaftlichen Fachgesellschaft auf Grundlage wissenschaftlicher Untersuchungen definiert und veröffentlicht; damit ist auch die Anforderung der Gebührenordnung nach einer wissenschaftlichen Grundlage entwickelter Leistungen beispielhaft erfüllt.
In der GOZ 2012 sind grundsätzlich jedoch Screening-Untersuchungen bekannt und als selbständige Gebührennummer abgebildet. So wurde für den Bereich der Parodontaltherapie eine solche Screeningmethode mittels des Parodontalen Screening-Index aufgenommen (GOZ-Nr. 4005 „Erhebung mindestens eines Gingivalindex und/oder eines Parodontalindex, zum Beispiel des Parodontalen- Screening-Index PSI“).
Wenn das solchermaßen abgegrenzte Screening auf parodontale Entzündungen (mittels des Parodontalen Screening-Index) nicht Bestandteil der „Eingehende[n] Untersuchung zur Feststellung von Zahn-, Mund- und Kiefererkrankungen einschließlich Erhebung des Parodontalbefundes sowie Aufzeichnung des Befundes“ nach GOZ-Nr. 0010 oder der GOZ-Nr. 4000 (Parodontalstatus) ist, so ist davon auszugehen, dass dies auch für das Screening auf Bruxismus gilt.
Demnach ist die Berechnung des BSI weder über die GOZ-Nr. 0010 noch über die GOZ-Nr. 8000 (Klinische Funktionsanalyse), sondern über das Analogieverfahren nach Paragraf 6 Absatz 1 GOZ vorzunehmen. Es handelt sich um eine selbstständige zahnärztliche Leistung.
Geeignete Analognummern zu empfehlen, ist generell schwierig. Der tatsächlich gegebene Aufwand ist insbesondere abhängig von dem im individuellen Fall als notwendig erachteten, jeweils durchgeführten und dokumentierten Umfang des Bruxismus-Screenings. Beispielsweise erscheint eine Orientierung an der Bewertungsrelation zwischen den GOZ-Nrn. 4000 und 4005 (die GOZ-Nr. 4005 hat die Hälfte der Punktzahl der GOZ-Nr. 4000) naheliegend.
Ein erhöhter Steigerungssatz oder eine abweichende Bewertung können erforderlich sein, wenn der Aufwand im Einzelfall deutlich abweicht, so zum Beispiel durch notwendige Wiederholung von Befunden mit unklarer Ausprägung oder bei der Notwendigkeit ausführlicher Beantwortung umfangreicher Rückfragen des Patienten zu Einzelbefunden.
Auch wegen gegebenenfalls von Kostenerstattern angestellten Nachfragen ist es außerordentlich sinnvoll, die Befunde eindeutig dokumentiert vorweisen zu können, beispielsweise im Formular zum BSI der DGFDT.
Ein Beitrag von Dr. Dr. Alexander Raff, Stuttgart
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de