Neue Erkenntnisse aus Grundlagenforschung und klinischen Studien – das gab es beim Treffen der Society of Oral Physiology vom 30. Mai bis 2. Juni 2019 im schottischen Dunkeld. 70 Teilnehmer aus Europa, Kanada und Japan tauschten sich anhand von 21 Vorträgen, 15 Posterpräsentationen und unzähligen Gesprächen über neueste Erkenntnisse und Studienergebnisse aus. Die umsichtige Organisation durch den Tagungspräsidenten Samuel Cadden (Dundee) und sein Team (Mark und Sarah Hector sowie Fran Zaccarini) ermöglichte eine warmherzige, ungezwungene und kollegiale Atmosphäre, die für Konferenzen der Society of Oral Physiology charakteristisch ist und den besonderen Charme der Tagungen ausmacht.
Die Themen der Vorträge und Präsentationen beschäftigten sich mit unterschiedlichen Aspekten der kraniomandibulären Dysfunktion (CMD) und orofazialen Schmerzen, der oralen Physiologie (Okklusion, Mastikation, Neurophysiologie), der Schlafmedizin und des Bruxismus. Nachfolgend seien einige Vorträge und Präsentationen besonders erwähnt.
Neueste neurophysiologische Erkenntnisse
Interessante Einblicke in neueste neurophysiologische Erkenntnisse gewährten durch ihre Vorträge Limor Avivi-Arber (Toronto; Bedeutung der Astroglia für orofaziale sensomotorische Kortex-Neuroplastizität), Barry Sessle (Toronto; Auswirkungen zahnärztlicher Maßnahmen auf Strukturen und Funktion des Gehirns), Brian Cairns (Vancouver; Auswirkungen intraganglionärer Applikation von GABA auf kaumuskelbezogene Motoneurone, die die Kaumuskulatur innervieren) sowie Peter Svensson (Aarhus; Induzierung neuroplastischer Veränderungen im Kontext kortikomotischer Kontrolle von Zungen- und Kaumuskulatur durch wiederholte protrusive Kieferbewegungen).
Erik Lindfors (Uppsala/Jönköping, Schweden) unterstrich anhand der Ergebnisse einer randomisierten klinischen Studie die große Bedeutung therapeutischer Kieferübungen im Rahmen eines Heimübungsprogramms bei Patienten mit myofaszialen Schmerzen (> sechs Monate Schmerzsymptomatik). Gegenüber der Behandlung mit Okklusionsschienen schien die Patientengruppe, die ein physiotherapeutisches Heimübungsprogramm absolvierte, weniger zahnärztliche Kontrolltermine und eine geringere mittlere Behandlungszeit zu benötigen.
Die Arbeitsgruppe von Ewa Lampa und Birgitta Wiesinger (Umea/Malmö, Schweden) wies anhand ermittelter Studienergebnisse auf komplexe Interaktionen zwischen Kiefer- und Nackenbewegungen und auf die Auswirkungen von Schleudertraumata auf orofaziale Schmerzen und Kieferbeeinträchtigungen hin.
Diesen Tagungsbericht in englischer Sprache und weitere aktuelle Beiträge zur Funktionsdiagnostik und Therapie, unter anderem die neue Leitlinie zum Bruxismus, lesen Sie in der Ausgabe 3/2019 der Zeitschrift für kraniomandibuläre Funktion/Journal of Craniomandibular Function, die im August erscheint.
Die Zeitschrift berichtet bilingual in Deutsch und Englisch über neue Entwicklungen in Klinik und Forschung. Sie nimmt aktuelle Original- und Übersichtsarbeiten, klinische Fallberichte, interessante Studienergebnisse, Tipps für die Praxis, Tagungsberichte sowie Berichte aus der praktischen Arbeit aus der gesamten Funktionsdiagnostik und -therapie auf. Vierteljährlich informiert sie über Neuigkeiten aus den Fachgesellschaften und bringt aktuelle Kongressinformationen und Buchbesprechungen. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.
Protrusionsbehelfe und obere Luftwege
Frank Lobbezoo (Amsterdam) untersuchte die Wirkung zweier Protrusionsbehelfe (SomnoDent-Schiene, Fa. SomnoMed Orthosleep-19 GmbH, Thüngersheim, Deutschland) sowie Herbst-Behelf, auf die Dimension der oberen Luftwege im Rahmen der Behandlung der obstruktiven Schlafapnoe. Der Vergleich der beiden Behandlungsformen ergab keine signifikanten Unterschiede zwischen „Responders“ und „Non-Responders“ im Hinblick auf den Ausgangszeitpunkt wie auch nach drei Monaten Behandlungsdauer.
Die Wirkung des japanischen Reisweins Sake in Stresssituationen wurde im Rahmen einer tierexperimentellen Studie an Ratten von Keiichiro Okamoto (Niigata, Japan) analysiert. Er konnte feststellen, dass nach experimenteller Verletzung im Masseterbereich (durch Formalingabe) die Expression des Fos-Proteins (Marker für neuronale Aktivität) im Hinterhorn des Rückenmarks bei Sake-Exposition (intraperitoneale Injektion) deutlich vermindert war. Zwar konnte dieser Effekt auch bei alleiniger Gabe von Äthanol erzielt werden, jedoch in deutlich geringerem Umfang.
Probleme bei Arthritis des Kiefergelenks
Per Alstergren (Malmö, Schweden) widmete sich in einem systematischen Review der Frage nach Nebenwirkungen der intraartikulären Kortikosteroidinjektion bei Arthritis unter besonderer Berücksichtigung des Kiefergelenks. Es konnte keine überzeugende Evidenz dafür ermittelt werden, dass die intraartikuläre Injektion von Kortikoiden mit Knorpel- oder Knochendestruktion im Gelenk assoziiert ist.
Hakan Nilsson (Jönköping, Schweden) fasste Langzeitergebnisse einer prospektiv angelegten nordischen Studie zusammen, die den Verlauf juveniler idiopathischer Arthritis (JIA) des Kiefergelenks klinisch und röntgenologisch über 18 Jahre dokumentierte. Gegenüber altersangepassten Kontrollpersonen zeigten JIA-Patienten signifikant häufiger orofaziale Schmerzen, wiesen eine signifikant reduzierte maximale Kieferöffnung (47 mm gegenüber 57 mm) auf und offenbarten bei 52 Prozent der Kiefergelenke mindestens einen abnormalen radiographischen Befund. Lediglich 39 Prozent der JIA-Patienten zeigten keinerlei radiographische Auffälligkeiten.
Kurzzeiteffekte mit Schienen bei Schlafbruxismus
Vera Colombo (Zürich) verglich Kurzzeiteffekte beim Tragen der Michiganschiene und des NTI-Behelfs auf die nächtliche Aktivität der Kiefermuskulatur bei Personen mit nachgewiesenem Schlafbruxismus. Im Vergleich zur Ausgangssituation wurde durch das Tragen des NTI-Behelfs die Masseter-Muskelaktivität signifikant reduziert – in Bezug auf die Zahl der Kontraktionsepisoden und in Bezug auf die Amplitudenaktivität. Ähnliche Effekte konnten beim Tragen der Michiganschiene nicht ermittelt werden.
Florian Heuser (Bonn) präsentierte Ergebnisse eines Vergleichs der Bestimmung okklusaler Kontakte mit Okklusionsfolie einerseits und digitaler intraoraler Scantechnologie andererseits. Es zeigte sich, dass bezüglich der Verteilung der Okklusionskontakte Unterschiede zu ermitteln waren; zwar war die Zahl der bestimmten Okklusionskontakte ähnlich, jedoch differierte die Lage der Kontakte abhängig von der Methode.
Rosaria Bucci (Neapel) untersuchte die okklusale Sensitivität bei Patienten mit schmerzhaften Myoarthropathien des Kausystems und gesunden Kontrollpersonen. Es ergaben sich klare Hinweise darauf, dass okklusale Erhöhungen unter 50 µm in der Patientengruppe deutlicher wahrgenommen werden als Erhöhungen über 50 µm im Vergleich zu den alters- und geschlechtsangepassten Kontrollpersonen.
Die Arbeitsgruppe um Osamu Komiyama (Matsudo, Japan) und Antoon De Laat (Leuven, Belgien) analysierte die Wirkung von Schlafrestriktion auf die okklusionsbezogene somatosensorische Sensitivität. Die Ergebnisse der Studie an zwölf gesunden Probanden weisen darauf hin, dass die Schlafkondition sich auf die Wahrnehmung von Unannehmlichkeit (unpleasantness) auswirkt, jedoch die okklusale Sensation nicht beeinflusst wird.
Positiver Effekt implantatverankerter UK-Totalprothesen
Norbert Enkling (Bonn/Bern) präsentierte Ergebnisse einer klinischen Studie, in der Patienten mit implantatverankerten Unterkiefer-Totalprothesen versorgt worden waren. Die Prothesen waren mit jeweils einem Implantat (Durchmesser: 1,8 mm) interforaminal verankert und sofort belastet. Nach fünf Jahren zeigten die eingesetzten Implantate eine sehr hohe Überlebensrate. Die Kaueffizienz verbesserte sich signifikant gegenüber der Ausgangslage und der Situation nach einem Jahr, die maximale Beißkraft wies einen stetigen Anstieg über die Zeit auf.
Nenad Lukic (Zürich) beschäftigte sich mit der Frage, wie sich Botulinum Toxin A nach Injektion im Massetermuskel verteilt. Dazu wurden Botox-Injektionen am Massetermuskels des Schweines 12 Stunden post mortem unter Ultraschall-Visualisierung durchgeführt. Die Botox-Gabe verbreitete sich entlang der Muskelfaser, ohne die Faszien zu penetrieren. Die Beziehung zwischen axialer und lateraler Expansion betrug 3 zu 1.
Prof. Dr. med. dent. Alfons Hugger, Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik, Westdeutsche Kieferklinik, Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf