Patienten mit dünnem Gingivatyp neigen vermehrt zu Rezessionen. Diese entstehen unabhängig von der Mundhygiene und können neben ästhetischen Beeinträchtigungen auch Hypersensibilitäten im Zahnhalsbereich auslösen. Die plastische Deckung der freiliegenden Wurzelareale führt langfristig zu einer Wiederherstellung der Funktion und der Rot-Weiß-Ästhetik. Doch ebenso vielfältig wie die Ätiologie sind auch die Therapieansätze. Neben Verschiebeplastiken und Rotationslappen kommen vermehrt kombinierte Techniken mit autologen und xenogenen Bindegewebstransplantaten zum Einsatz. Im Beitrag von Dr. Julia Hehn und Prof. Dr. Stefan Fickl aus der Quintessenz 4/2018, werden die verschiedenen Operationstechniken mit Indikation und Langzeitprognose übersichtlich dargestellt und diskutiert.
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Ätiologie gingivaler Rezessionen
Unter einer Rezession versteht man den vestibulären oder oralen Rückgang der Gingiva bis apikal der Schmelz-Zement-Grenze. Die so exponierte Wurzeloberfläche führt oft zu starken Hypersensibilitäten des Zahns und ist aus medizinischer Sicht eine Prädilektionsstelle für Karies und Abrasionen12. Weiterhin kann durch eine Rezession die Ästhetik entscheidend beeinträchtigt werden, was bei vielen Patienten den Leidensdruck erhöht.
Die präoperative Diagnostik und die Evaluierung der ätiologischen Faktoren sind entscheidend für den Therapieerfolg. Es muss zwischen anatomischen und äußeren Einflüssen unterschieden werden. Die vestibuläre Knochenlamelle ist meist nur sehr dünn ausgeprägt. So können weit labial stehende Zahnwurzeln oder ein stark einstrahlendes Frenulum zu einer Fenestrierung oder einer vollständigen Dehiszenz des labialen Knochens führen und eine Rezession begünstigen. Als Hauptgründe werden jedoch äußere Einflüsse diskutiert. Patientenbezogene Faktoren wie z. B. eine traumatische Putztechnik tragen maßgeblich zur Entstehung von Rezessionen bei14. Daher sollte das präoperative Behandlungskonzept immer eine intensive Mundhygieneschulung umfassen, in welcher den Patienten die richtige, schonende Putztechnik vermittelt wird. Diese Plaque- und Abrasionsprophylaxe ermöglicht es, neue Defekte zu vermeiden oder das Fortschreiten bestehender Defekte zu verhindern.
Iatrogene Faktoren wie überextendierte Restaurationsränder führen zur Verletzung der biologischen Breite und bedingen folglich die Rezessionsentstehung. Auch mechanische Reize durch orale Piercings und ein erhöhter Nikotinkonsum sind als Ursachen für gingivale Rezessionen wissenschaftlich belegt10. Hier ist es unabdingbar, dass die Piercings entfernt werden oder das Rauchverhalten umgestellt wird.
Eine weiterer Faktor sind kieferorthopädische Behandlungen6,20. Joss-Vassalli et al.9 konnten nachweisen, dass Patienten nach Abschluss der kieferorthopädischen Therapie ein 4,48-fach höheres Risiko für Rezessionen hatten als Patienten ohne eine solche Behandlung. Ein Zusammenhang zwischen Bruxismus und dem Auftreten generalisierter Gingivarezessionen wird ebenfalls diskutiert. Die Theorie, dass exzessive Scherkräfte zu einem partiellen Verlust der bukkalen Knochenlamelle führen und so die Entstehung einer Rezession begünstigen, ist wissenschaftlich jedoch nicht eindeutig belegt7.
Klassifikation
Wichtig ist die Differenzierung von klassischen gingivalen Rezessionen und von Weichgewebsdefekten, die im Zuge einer Parodontitis und der eventuell darauffolgenden Therapie entstanden sind. Bei Weichgewebsdefekten kommt es infolge des Knochenabbaus neben vestibulären und/oder lingualen Gingivadefekten auch zum Verlust der interdentalen Weichgewebe. Diese „black triangles“ können chirurgisch nicht vollständig gedeckt werden. Miller15 veröffentlichte eine Klassifikation, welche die Weichgewebsdefekte entsprechend ihrer Behandlungsprognose in vier Rezessionsklassen unterteilt. Während bei den Klassen I und II langfristig eine vollständige Deckung erzielt werden kann, ist bei den Klassen III und IV nur eine unvollständige oder überhaupt keine Deckung möglich (Tab. 1).
Operative Techniken der Rezessionsdeckung
Bei der Therapie gingivaler Rezessionen unterscheidet man einfache Lappentechniken (Verschiebe- und Rotationslappen) von Kombinationstherapien mit einem Weichgewebstransplantat (Bindegewebstransplantat, freies Schleimhauttransplantat, xenogene Transplantate). Die Wahl der richtigen Technik erfolgt nach sorgfältiger Analyse des Defektareals und ist ausschlaggebend für ein stabiles Langzeitresultat. Entscheidende Kriterien sind:
- Tiefe der Rezession,
- Deckung einer singulären Rezession oder mehrerer Rezessionen,
- Breite der keratinisierten Gingiva apikal der Rezession sowie
- Breite der keratinisierten Gingiva lateral der Rezession.
Verschiebelappen
Bei der Verschiebelappentechnik wird das freiliegende Wurzelareal mit Hilfe der an den Defekt angrenzenden Gingiva gedeckt. Man unterscheidet den koronalen Verschiebelappen, modifizierte Formen und den Semilunarlappen (Tab. 2).
Koronaler Verschiebelappen
Der koronale Verschiebelappen mit vertikalen Entlastungsinzisionen stellt die am besten untersuchte Variante zur Deckung singulärer Rezessionen dar2,8 (Abb. 1). Voraussetzung ist das Vorhandensein einer ausreichend breiten keratinisierten Gingiva von mindestens 2 mm apikal der Rezession. Initial erfolgt eine horizontale Schnittführung auf Höhe der späteren Papillenbasis. Die vorhandenen Papillenareale werden als Empfängerbett für den Verschiebelappen entepithelialisiert. Im Anschluss wird der Lappen über zwei vertikale Inzisionen bis über die Mukogingivalgrenze extendiert und im Bereich der Lappenbasis eine Periostschlitzung durchgeführt. Die so erzielte Mobilität ermöglicht eine weite koronale Verlagerung des Gewebes und eine spannungsfreie Adaptation. Auch multiple Defekte können mit dieser Technik erfolgreich therapiert werden.
Die Vorteile der Verschiebetechnik nach koronal liegen in der einfachen Durchführung und dem sehr kleinen Operationsfeld. Als nachteilig wird jedoch die vertikale Entlastung diskutiert, da hieraus eine verminderte Durchblutung und Narbenzüge resultieren, welche die Ästhetik negativ beeinträchtigen können.
Modifizierte Form des koronalen Verschiebelappens
Um die erwähnten Nachteile zu vermeiden, stellten Zucchelli und de Sanctis21 eine modifizierte Form des koronalen Verschiebelappens ohne Vertikalinzisionen vor. Dabei wird analog zur oben beschriebenen Technik entsprechend der Rezessionstiefe mesial und distal der Rezession im Papillenbereich inzidiert und ein Spaltlappen präpariert. Die Schnittführung unterscheidet sich jedoch dahingehend, dass die Inzisionen abgeschrägt und zum Zentrum der Rezession hin durchgeführt werden. Daher ist es möglich, den Lappen nach Entepithelialisierung der alten Papillenspitzen mit leichter Rotation nach koronal zu verschieben und die neuen Papillenspitzen interdental zu fixieren.
Die modifizierte Technik nach Zucchelli und de Sanctis garantiert eine gute Durchblutung des Lappens und verhindert die Entstehung von Narbenzügen. Allerdings lässt sich eine ausreichende Mobilität nur über eine weitreichende Splittung der Mukosa und ggf. eine Durchtrennung von Muskelfasern erzielen. Daher ist diese Variante bei Patienten mit multiplen Rezessionen oder stark einstrahlenden Lippen- und Wangenbändchen indiziert, wohingegen sie für umfangreiche singuläre Defekte nicht in Frage kommt.
Modifizierte Tunneltechnik nach Azzi et al.
Eine weitere Verschiebeplastik ist die modifizierte Tunneltechnik nach Azzi et al.1. Die minimalinvasive Vorgehensweise sieht eine rein intrasulkuläre Schnittführung im Bereich der betroffenen und der angrenzenden Zähne unter Erhalt der interdentalen Papillen vor. Mittels spezieller Tunnelierungsinstrumente werden die Papillen unterminiert und die Gingiva in einer Spaltlappentechnik vom Knochen gelöst. Im Gegensatz zur ursprünglichen Tunneltechnik nach Allen wird der Lappen im Anschluss nach koronal verschoben und interdental fixiert. Aufgrund der minimalinvasiven Schnittführung lassen sich mit der Tunneltechnik sehr gute ästhetische Ergebnisse erzielen. Durch die Fixation der Papillenspitzen ist eine Verschiebung des Lappens jedoch nur eingeschränkt möglich. Daher eignet sich die Technik primär für flache Inzisionen. Ausgeprägte singuläre Rezessionen, ein stark erhöhter Muskeltonus oder ein ausgeprägtes Frenulum stellen eine Kontraindikation dar.
Semilunarlappen
Nachfolgend sei der Vollständigkeit halber noch die Präparation des Semilunarlappens beschrieben19. Parallel zur Rezession wird eine 3 bis 4 mm apikal verlaufende, geschwungene Inzision durchgeführt, wobei der Lappen beidseitig gestielt bleibt. Nach Mobilisation der Gewebsbrücke erfolgt eine Verschiebung des Mukosalappens nach koronal, wo er passiv aufliegt und lediglich mit einem Parodontalverband abgedeckt wird. Die geringe Mobilität lässt die Technik nur bei dickem Gingivatyp und flachen Rezessionen der Miller-Klasse I zu. Zudem erfordert die sekundäre Wundheilung eine vollständig erhaltene vestibuläre Knochenlamelle. Die Technik gilt aber aufgrund der ausgeprägten Narbenbildung und des eingeschränkten Indikationsbereichs als obsolet.
Rotationslappen
Der laterale Rotationslappen wird zur Deckung singulärer Rezessionen eingesetzt17. Voraussetzung ist das Vorhandensein einer ausreichend breiten keratinisierten Gingiva lateral der Rezession von mindestens 3 bis 4 mm. Nur so kann sichergestellt werden, dass nach der Rotation des Lappens genügend keratinisierte Mukosa im Bereich der Entnahmeregion verbleibt und eine iatrogene Rezession in diesem Areal vermieden wird. Im Bereich des Empfängerbettes wird die Gingiva lateral und apikal der Rezession entepithelialisiert. Anschließend erfolgt die Präparation des Rotationslappens, wobei darauf zu achten ist, dass koronal der horizontalen Inzision eine Restgewebsstärke von 2 mm bestehen bleibt. Der Mukosalappen wird dann nach apikal extendiert, rotiert und spannungsfrei auf dem Empfängerbett fixiert (Abb. 2 bis 4).
Der doppelte Papillenlappen5 ist für die Therapie singulärer Weichgewebsdefekte indiziert, bei denen apikal nicht genügend keratinisierte Gingiva vorhanden ist. Analog zum lateralen Verschiebelappen werden mesial und distal der Rezession zwei Spaltlappen präpariert und über der Rezession zusammengefügt (Abb. 5). Die Präparation des doppelten Papillenlappens ist sehr techniksensitiv, da Perforationen oder eine unzureichende Dicke des Spaltlappens zu Nekrosen führen können.
Kombination mit Weichgewebstransplantaten
Für ein langzeitstabiles Ergebnis ist neben einer möglichst vollständigen Deckung der Rezession auch der Gingivatyp entscheidend. Patienten mit dünnem Gingivatyp neigen vermehrt zu Rezessionen, wohingegen Patienten mit dicker Gingiva eine höhere Weichgewebsstabilität zeigen. Daher wird im Zuge der Rezessionsdeckung immer auch eine Verdickung der Weichgewebe angestrebt.
Bindegewebstransplantat
Laut aktueller Studienlage gilt die Kombination mit Bindegewebstransplantaten als Goldstandard bei der Deckung von Rezessionen3,4,18. Die Entnahme am Gaumen erfolgt mittels der sogenannten Trap-Door-Technik oder als freies Schleimhauttransplantat mit anschließender Entepithelialisierung. Der Vorteil des Bindegewebstransplantates liegt in der harmonischen Farbintegration und der geringen Resorption.
Freies Schleimhauttransplantat
Analog zum Bindegewebstransplantat wird das Schleimhauttransplantat am Gaumen entnommen, das Epithel aber belassen. Kleine Transplantate können alternativ auch in der Tuberregion gewonnen werden. Das freie Schleimhauttransplantat ist primär bei der Verbreiterung der keratinisierten Gingiva um Zähne oder Implantate indiziert. Der Einsatz bei Rezessionen zeigt zwar eine hohe Langzeitstabilität, aufgrund der schlechten Farbintegration des Transplantates wird diese Technik heute jedoch als obsolet betrachtet.
Xenogene Transplantate
Zunehmend kommen in den letzten Jahren auch Transplantate aus porciner Kollagenmatrix zum Einsatz. Der Verzicht auf eine Entnahmestelle und somit auf ein zweites Operationsgebiet resultiert in einer kürzeren Operationszeit und weniger Schmerzen für den Patienten11. Studien haben gezeigt, dass sich mit dieser Methode der Weichgewebsaugmentation bezüglich Form und Farbgestaltung gute Ergebnisse erzielen lassen, die langfristig jedoch hinter den Resultaten mit autologem Bindegewebe zurückbleiben13,16.
Falldarstellungen
Patientenfall 1
Klinische Anamnese und Befund
Eine 24-jährige Patientin wurde von ihrem Zahnarzt für eine Rezessionsdeckung überwiesen. Die Patientin befürchtete, aufgrund des stark progredienten Verlaufs der Rezessionen ihre Zähne frühzeitig zu verlieren. Zudem litt sie unter starken Hypersensitivitäten im Bereich der freiliegenden Zahnhälse.
Die Allgemeinanamnese war unauffällig. Die Patientin war Studentin und befand sich zum Zeitpunkt der Erstvorstellung kurz vor den Abschlussprüfungen ihres Studiums. Sie empfand die aktuelle Prüfungssituation als hohe Stressbelastung und klagte über Verspannungen der Kopf- und Nackenmuskulatur. Die klinische Untersuchung ergab ein karies- und füllungsfreies Gebiss. Funktionell stellte sich eine Druckdolenz im Bereich des Musculus masseter beidseits dar. Die Front- und Eckzahnführung war suffizient. Die Untersuchung des Parodonts zeigte eine generalisiert dünne, jedoch absolut entzündungsfreie Gingiva mit unauffälligen Sondierungstiefen bei gleichzeitig sehr guter Mundhygiene. Im Bereich der Oberkieferfront stellten sich ausgedehnte Gingivarezessionen der Miller-Klasse II an den Zähnen 13 und 23 sowie eine leichte Rezession der Miller-Klasse I an Zahn 12 dar (Abb. 6 bis 8). Die Patientin gab an, zweimal täglich die Zähne mit einer normalen Handzahnbürste zu putzen und Zahnseide zu verwenden.
Therapieoptionen
Die Ausdehnung der Rezessionen bis zur Mukogingivalgrenze bei Erhalt der interdentalen Weichgewebe versprach eine gute Prognose für eine vollständige Deckung. Da apikal und lateral der Rezessionen nicht genügend keratinisiertes Gewebe vorlag, bestand eine Kontraindikation für die Präparation eines klassischen koronalen oder lateralen Verschiebelappens. Die Rezessionstiefe an den Eckzähnen und der Wunsch nach einem ästhetisch anspruchsvollen Ergebnis sprachen für eine Deckung mit Weichgewebsaugmentation ohne vertikale Inzisionen. Um eine ausreichende Mobilität des Lappens zu erzielen, wurde für beide Seiten ein modifizierter koronaler Verschiebelappen mit Bindegewebstransplantat vom Gaumen geplant.
Klinische Umsetzung
Initial erfolgte die Therapie der funktionellen Beschwerden. In enger Zusammenarbeit mit dem behandelnden Physiotherapeuten wurden die muskulären Verspannungen mit Massagen und einer Relaxierungsschiene behandelt. Des Weiteren erfolgte eine Prophylaxesitzung, in der die richtige, schonende Putztechnik zur Vermeidung von Rezessionen besprochen und geübt wurde.
Nach zwölf Wochen schloss sich die operative Korrektur der Gingivarezessionen an. Es erfolgte eine Schnittführung nach Zucchelli und de Sanctis, bei welcher die Inzision zur ausreichenden Mobi