Kenntnisse über die Anatomie des Menschen gehören im Medizinstudium zur Grundausbildung. Der klassische Präparationskurs gilt für die Vermittlung anatomischen Wissens nach wie vor als Goldstandard. Studierende der Human- wie der Zahnmedizin lernen dabei die grundlegenden anatomischen Details und Zusammenhänge auf praktische Weise kennen. Mit dem Skalpell in der Hand legen rund 200 Humanmediziner und 40 Zahnmediziner im vorklinischen Semester an 14 Körperspendern unter Anleitung von Dozenten des Zentrums Anatomie nach allen Regeln der Kunst Schicht für Schicht eines menschlichen Körpers frei, entdecken Knochen, Muskeln, Nerven und erkunden die Lage von Organen.
Schnittbilder und 3D-Visualisierung
Hier geht die Lehre an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) gemeinsam mit der Bereichsbibliothek Medizin der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) neue Wege. Für insgesamt 180.000 Euro hat die UMG aus Studienqualitätsmitteln der Studienkommission zwei virtuelle 3D-Anatomietische angeschafft. Damit erfüllt die anatomische Lehre an der UMG die aktuellen Anforderungen aus der klinischen Praxis. So bietet die anatomische Lehre Ausbildungsmöglichkeiten an Schnittbildern oder daraus berechneten 3D-Visualisierungen.
Im modernen anatomischen Unterricht kommen zunehmend hochtechnische virtuelle Lehrmittel und bildgebende Verfahren, wie Sonografie, Computertomografie und Magnetresonanztomografie zum Einsatz. Damit verfolgt das Zentrum für Anatomie ein neues Lehrkonzept. Gemeinsam mit dem Institut für Diagnostische und Interventionelle Radiologie der UMG werden alle Körperspender mit einem Ganzkörper-CT versorgt. Studierende können somit während des Präparierkurses vom ersten bis zum letzten Tag die gesamte virtuelle Anatomie mit der fortschreitenden Präparation abgleichen.
Hohe Lehrqualität
Mit den beiden innovativen 3D-Anatomietischen gehört die Lehre der Anatomie in Göttingen zu aktuell 30 Standorten in Europa und zehn Universitätsklinika bundesweit, die einen virtuellen Anatomietisch zusätzlich zum Präparierkurs in der anatomischen Lehre einsetzen. Dass zudem ein weiterer virtueller 3D-Anatomietisch in der Medizinbibliothek jederzeit von Studierenden und Ärzten zum Studium und zur Weiterbildung genutzt werden kann, ist ein außergewöhnliches Angebot – einen solchen Service gibt es bislang nur noch an der Universität Heidelberg
Seit dem Wintersemester 2017/2018 wird einer der beiden Göttinger 3D-Anatomietische in der anatomischen Lehre zur Ausbildung von Medizinstudierenden verwendet. „Zurzeit setzen wir den virtuellen Anatomietisch ausschließlich in einer freiwilligen Veranstaltung ein. Hier können Studierende gezielt ihre anatomischen Kenntnisse im Zusammenhang mit Krankheiten, wie zum Beispiel bei Herz-, Hirn- oder Darminfarkten, zusätzlich schulen und vertiefen. Die virtuelle Lernplattform unterstützt uns dabei mit didaktisch aufbereiteten Inhalten, Kommentaren, Erläuterungen oder Bildern, die beliebig zu- oder abgeschaltet werden können“, sagt Prof. Dr. Jochen Staiger, Direktor des Instituts für Neuroanatomie und Geschäftsführender Leiter des Zentrums Anatomie an der UMG. Prof. Staiger hat sich in der Studienkommission der UMG für die Anschaffung der innovativen Lehrmittel eingesetzt.
Ein Tisch in der Medizinbibliothek
Die UMG geht zusätzlich noch weiter. Allen Studierenden soll quasi rund um die Uhr ein angeleiteter Zugang zu dem faszinierenden Lehrmittel möglich gemacht werden. So wurde auf Initiative von Dagmar Härter, Leiterin der Bereichsbibliothek Medizin der SUB, ein zweiter virtueller 3D Anatomietisch angeschafft. Dieser steht in der Medizinbibliothek. Nach einem Einführungstraining durch studentische Hilfskräfte kann er frei genutzt werden. „Der Tisch ist ein High-Tech-Gerät mit vielen Spezialfunktionen und Einstellungen, die man anwenden können muss“, sagt Dagmar Härter. „Der virtuelle Anatomietisch bietet ideale Voraussetzungen besonders für Prüfungsvorbereitungen, also zum Üben und Lernen von anatomischen Details wie zum Abprüfen von Wissen. Er hat einen Vorteil gegenüber dem klassischen Präparationskurs: Mit dem virtuellen Skalpell lässt sich eine Sektion im Lernmodus beliebig oft wiederholen. Es gibt ein ‚eigenes Tool’, das Strukturen, Organe und Körperteile benennt. Die 3D-Darstellung erlaubt es zudem, den Blickwinkel zu verändern, Entfernungen und Proportionen lassen sich damit besser erkennen und vermessen.“
Reale Schnittbilder als Grundlage
Die Hightechgeräte zeigen die lebensgroße dreidimensionale Darstellung eines Menschen, die an beliebigen Stellen geschnitten und – anders als bei einer realen Präparation – virtuell von allen Seiten betrachtet werden kann. Mit Touch-Screen und über ausgewählte Tools lassen sich beliebige anatomische Details anzeigen. Die 3D-Darstellung bietet einen Überblick über die Lage von Organen, Blutgefäßen und Nervenfasern im menschlichen Körper. Der Tisch kann auch aufrecht aufgestellt eingesetzt werden.
Die virtuellen Darstellungen haben reale Schnittbilder als Grundlage, zudem verwenden sie Daten aus der 3D-Computertomographie (CT) sowie grafische Abbildungen der Strukturen, die mit bildgebenden Verfahren nur schwer zu erkennen sind. So können etwa CT-Aufnahmen der inneren Organe und des Skeletts um exakte Zeichnungen des Gefäß- und Nervensystems ergänzt werden. Auch Kombinationen mit Röntgenbildern oder MRT-Aufnahmen sind möglich.
Eine umlaufende Kamera am Rand des Tisches registriert Bewegungen auf der Bildschirmoberfläche und erlaubt die Bedienung per Fingerzeig. Auf diese Weise ist es möglich, den virtuellen Körper beliebig zu drehen, quer oder längs zu schneiden, Gewebsschichten zu entfernen und einzelne Bereiche zu vergrößern. Darüber hinaus sind CT-Aufnahmen von Menschen mit unterschiedlichen Erkrankungen abrufbar. So können am dreidimensionalen Modell krankhafte Veränderungen wie Tumoren gezeigt werden, die an den Leichen sonst selten zu sehen sind oder weggeschnitten werden.