Bis vor einer Woche hatten Medizin und Moratorium nichts miteinander zu tun. Doch anlässlich des 125. Deutschen Ärztetages erblickte ein neues Wort das Licht der Welt: das Digitalisierungs-Moratorium! Angesichts des durch die permanente Hektik bei der Digitalisierung im Gesundheitswesen ausgelösten Veränderungsstresses – Nicht-Digitale nennen es Chaos – forderte der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, von einer neuen Bundesregierung nicht weniger als ein einjähriges Stillhalteabkommen. Wer stillhalten soll, ist bereits ausgemacht: die Gematik.
Als ob es nicht schon genug e-Wörter gibt, kommt nun auch noch das „e-Moratorium“ hinzu. Ein Moratorium ist gemäß dem Gabler Wirtschaftslexikon ein „in Zeiten wirtschaftlicher Schwäche eines Unternehmens (oder Staates) durch die Kreditgeber (Kreditinstitute, Lieferanten) gewährter Zahlungsaufschub, das heißt fällige Zinsen und Tilgungen werden gestundet“. Frei übersetzt: Der Gesetzgeber setzt die verpflichtenden Termine für ein Jahr aus und verschafft auf diese Weise den Leistungserbringern den notwendigen Freiraum, so die Begründung auf dem Ärztetag, die durch die ePA, eAU und ganz aktuell das E-Rezept erheblich veränderten Arbeitsabläufe in die Arbeitsrealität einzupassen.
Aber auch die Betriebssicherheit der Telematikinfrastruktur, die den Arbeitsalltag in den Praxen erheblich beeinträchtige, war Gegenstand deutlicher Kritik. Dass darunter die Akzeptanz digitaler Anwendungen seitens der Anwender leidet, ist allgemeine Erfahrung und bedarf keines Psychologiestudiums.
Was allerdings verwundert, ist das nach wie vor übliche Vorgehen der Gematik, nicht ausreichend getestete Anwendungen gegen begründete Warnungen der Anwenderseite in den „Markt“ zu drücken. Auf dem Ärztetag fielen diesbezüglich die Worte „ignoriert“ und „abgekanzelt“. Reinhardt: „Wenn wir das jetzt noch verändern wollen, dann müssen wir die Reißleine ziehen und Ordnung in das Chaos bringen“. Oder in kurz: „Tempo raus aus der überhasteten Digitalisierung“, so der Ärztepräsident.
Mit dieser Wahrnehmung stehen die Ärzte nicht allein. Die Zahnärzteschaft hat den Druck, das Tempo und die halbgaren Anwendungen TI-Anwendungen ebenfalls vielfach beklagt und kritisiert, zuletzt auf der Bundesversammlung der Bundeszahnärztekammer. Man schließe sich der Forderung der Ärzte nach einem Moratorium uneingeschränkt an, erklärte der BZÄK-Präsident Prof. Dr. Christoph Benz erst am vergangenen Freitag bei der Eröffnung des Wissenschaftlichen Kongresses des Deutschen Zahnärztetags.
Die Probleme ballen sich
Und auch die Apotheker können ein Lied davon singen, betrachtet man den Stand der Entwicklung beim E-Rezept – keine zwei Monate vor seiner gesetzlich verpflichtenden Einführung. Seitens der Gematik hört man trotz des Testdesasters jedoch Positives. Angeblich seien die Apotheken nach dem von der Gematik vergangene Woche veranstalteten Konnektathon „E-Rezept-ready“.
Wie das? Nun, die Gematik „konnektete“ Softwarehäuser und Abrechenstellen – Apotheken aber nicht. Die Apotheken können, so das Ergebnis, E-Rezepte empfangen und bearbeiten. Nur abrechnen können sie die halt nicht. Bei rund 445 Millionen Rezepten im Jahr 2020, rund 37 Millionen pro Monat, mag man sich das entstehende Chaos und all die notwendige zusätzliche Arbeit gar nicht vorstellen. Ganz abgesehen davon, dass ärztliche und zahnärztliche Verordnungen gemäß Gesetz im ersten Halbjahr 2022 angesichts der technischen Probleme nicht nur via E-Rezept, sondern auch noch auf Papier erfolgen können.
Angesichts der Ballung der Probleme erscheint die Forderung nach einem Moratorium notwendig und auch sinnvoll. Denn der Nutzen der Vernetzung im Gesundheitswesen – das Wort Digitalisierung trifft angesichts einer IT-Durchdringung auf der Leistungserbringerseite von nahezu 100 Prozent und der fast vollständig ausgerollten Telematikinfrastruktur den Kern nicht – liegt auf der Hand und wird auch von sämtlichen relevanten Institutionen nicht in Frage gestellt.
Was läuft falsch in der Gematik?
Was also läuft falsch? Alle Spitzenverbände der Leistungserbringer und Krankenkassen sind Gesellschafter der Gematik, wenn auch seit der letzten Änderung der Gesellschafterstruktur (das BMG hält 51 Prozent) nur noch Minderheitsgesellschafter. Man trifft sich also regelmäßig. Da fragt man sich angesichts der beschriebenen Misere schon, wo das kommunikative Problem liegt. Wenn, gemäß einem treffenden Bonmot, nur sprechenden Menschen geholfen werden kann, warum ist die Gematik bei solchen Voraussetzungen nicht in der Lage, auf die Situation im „Feld“ Rücksicht zu nehmen und ihre Planungen entsprechend anzupassen?
Meines Erachtens liegt es an den schlechten Erfahrungen aus der Anfangszeit der Gematik, als die damaligen Gesellschafter – im Übrigen dieselben Organisationen wie heute, nur damals halt in der Rolle als Mehrheitsgesellschafter – die Pace nicht nach dem Ziel, sondern der jeweiligen standespolitischen Wetterlage ausrichteten und so viel Zeit verschwendeten. Im Verbund mit einem Bundesgesundheitsminister, der sich als digitaler Pacemaker geriert und permanent Druck macht, jagt man nun der verlorenen Zeit nach. Das Risiko, dabei die Leistungserbringer zu verlieren, scheint man jedenfalls bewusst in Kauf zu nehmen, sieht man doch den Gesetzgeber im Gleichschritt gehen. In Anbetracht der bereits projektierten TI 2.0 kann einem da schon das Grausen kommen.
Moderne Schrittmacher arbeiten belastungsabhängig
Apropos Pacemaker: in der Medizin versteht man darunter allgemein einen Herzschrittmacher. Man darf, ohne großartig zu spekulieren, davon ausgehen, dass sich Jens Spahn in der Schrittmacherrolle sieht/gesehen hat. Moderne Herzschrittmacher arbeiten jedoch frequenzadaptiert, will heißen belastungsabhängig. Das hatte Jens Spahn entweder übersehen oder aber – so meine Überzeugung – die Frequenzadaptierung einfach ausgeschaltet und permanent das Digitalisierungs-Gaspedal aufs Bodenblech durchgedrückt.
Das Ergebnis ist mittlerweile offensichtlich: Diejenigen, die in ihren Praxen die Gesundheitsversorgung physisch leisten, fühlen sich hinsichtlich der Segnungen der TI, die ihnen zumeist nur zusätzliche Arbeit machen und dabei kaum Vorteile bringen, mittlerweile „overpaced“. Da ist die Forderung nach einer definierten Pause, einem Moratorium mit klar vereinbarten Regeln, angesichts nicht ausgereifter, geschweige denn ausreichend getesteter digitaler Anwendungen wie ePA, eAU, E-Rezept etc. pp. mehr als berechtigt.
Weitere gute Gründe für eine kritische Betrachtung
Es gibt aber weitere Gründe, die Anwenderseite besser nicht sauer zu fahren. Denn ein weiterer Beschluss der Ärzteschaft fordert, die telematische Vernetzung im Gesundheitswesen generell einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Notwendig sei hier eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Analyse für alle Bereiche des Gesundheitswesens und für die einzelnen Anwender mit der Möglichkeit des Opt-outs, ließ Dr. Wieland Dietrich, Vorsitzender der Freien Ärzteschaft verlauten. „Vernetzung kann Vorteile bieten, beinhaltet aber auch erhebliche und zunehmende Risiken für Anwender, Patientendaten und die Versorgungssicherheit insgesamt. Auch das Bundesamt für die Sicherheit in der Informationstechnologie (BSI) weist auf erhebliche, zunehmende Risiken für vernetzte IT-Systeme in Deutschland hin“, erläutert Dietrich. Diese Risiken betreffen neben Bereichen wie der öffentlichen Verwaltung und der Wirtschaft ausdrücklich auch das Gesundheitswesen. Risiken durch Hacking nehmen im Hinblick auf Datenmissbrauch oder Datenverschlüsselung mit dem Zwecke der Erpressung weiter zu.
Problem der Datensicherheit und E-Evidenz-Verordnung
Man kann dieses als die Kritik Ewiggestriger abtun, das Problem der Datensicherheit ist damit aber nicht vom Tisch. Vor allem dann nicht, wenn es um die Pläne der Europäischen Kommission für eine sogenannte E-Evidenz-Verordnung geht, mittels der die Herausgabe von elektronisch gespeicherten Daten an Ermittlungsbehörden anderer EU-Staaten erleichtert werden soll. Aus Sicht der Ärzteschaft gefährdet das Vorhaben das besondere Arzt-Patienten Vertrauensverhältnis, wenn sich Behörden anderer EU-Länder Zugriff auf die von Ärztinnen und Ärzten dokumentierten Patientendaten Zugriff verschaffen können. Für das ärztliche Berufsträgergeheimnis sei dies „fatal und unakzeptabel“, so der Präsident der Bundesärztekammer. Und weiter: „Wir können dann nicht mehr ausschließen, dass Ärztinnen und Ärzte aus Sorge um die Sicherheit der sensiblen Patientendaten die Etablierung von digitalen Prozessen in ihren Praxen aussetzen".
Die Nutzerexpertise einbeziehen
Während hinsichtlich der E-Evidence-Verordnung die alte wie auch neue Bundesregierung gefragt ist, sollte angesichts der vielfältigen „E-Problemlagen“ die Forderung des Ärztetages nach einem runden Tisch nicht vorschnell von selbigem gewischt werden. Oder wie die BZÄK-BV es Ende Oktober gefordert hat: „die gezielte Förderung der Digitalisierung unter Nutzung der Expertise des Berufsstands“. Dies ist umso notwendiger angesichts der geplanten nächsten Evolutionsstufe, der TI 2.0.
Vielleicht sollte man sich an Konfuzius erinnern: „Wer schnell sein will, muss langsam gehen“.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.