Vom Star- und Sternchenglanz auf dem roten Teppich anlässlich der Eröffnung der diesjährigen Berliner Filmfestspiele noch leicht geblendet, starten wir mit einer etwas bizarren Nachricht in diese Kolumne. Denn wer unseren Gesundheitsminister angesichts seiner vielen, vielen öffentlichen „Reform“-Auftritte eher in der „Graue-Maus-Ecke“ verortet hat, muss nun umdenken. Prof. Dr. Karl Lauterbach kann nämlich auch anders. Statt trockener Wissenschaft auch Glamour und Glanz im Blitzlichtgewitter. Zumindest vordergründig!
Mehr öffentliches „Seht alle her“ geht nicht
Denn der SPD-Minister im Professorenrang machte aus dem Start der Berlinale angesichts der sich vor dem roten Teppich rangelnden Presse- und Fotografenmeute (vornehmlich der Publikumspresse) für kurze Zeit – man mag es glauben oder nicht – die „Karlinale“. Das klingt fast wie eine Überschrift der BILD-Zeitung, blieb aber trotzdem wahr, egal wie lange man sich die Augen rieb. Auf dem roten Teppich stand tatsächlich Karl Lauterbach – statt in festlicher Robe in seinem üblichen Pullunder und mit braunen Schuhen (siehe bei Bedarf den Bericht der BILD-Zeitung) und präsentierte breit, sehr breit grinsend seine neue Freundin der Öffentlichkeit. Bevor mir nun Zynismus unterstellt wird, nachfolgend meine Interpretation des Fotos: Lauterbach ist angesichts der derzeitigen Diskussionen rund um „sein“ Cannabisgesetz nicht etwa chemisch entspannt (kurz stoned), sondern einfach verliebt. Man muss dem Mann auch gönnen können! Das wäre die freundliche Formulierung.
„Möglichmacher“ Lauterbach im Wahlkampfmodus
Und damit sind wir bereits an dem Punkt, warum Obiges eine Erwähnung an dieser Stelle wert ist. Denn man darf mit Fug und Recht vermuten: Der vielfach als eher realitätsfern und der Versorgungswirklichkeit entrückt geltende Lauterbach, der sonst nur auf massiven öffentlichen Druck kurz aus seinem Reformolymp herabsteigt, sollte es mit seinem Auftritt auf dem roten Teppich gezielt menscheln lassen. So ein roter Teppich samt Blitzgewitter ist eine willkommene Abwechslung zur Dauerpräsenz in den bevölkerungsbildenden Talkshows dieses Landes. Denn auch die Kategorie „Klatschpresse“ will mit emotionalen Bildern bedient werden, schließlich gilt es dort ebenfalls potenzielle Wähler zu überzeugen. (Was seine neue Freundin – eine erfahrene Journalistin – davon hält, ist bei genauer Betrachtung des Fotos leicht zu decodieren.)
„Reform gesagt“ bedeutet nicht „Reform gemacht“
Doch zurück zu Permanentreformer Lauterbach, der unter Reform etwas anderes zu verstehen scheint als der Rest Deutschlands. Wikipedia wie auch der Duden definieren Reform, auch Reformierung und Reformation, als eine planvolle Umgestaltung bestehender Verhältnisse, Systeme, Ideologien oder Glaubenslehren in Politik, Religion, Wirtschaft oder Gesellschaft. Das Gegenteil zur planvollen Umgestaltung ist die Revolution, mithin eine chaotisch ablaufende Veränderung. Witzigerweise wird das Wort Revolution gerne im Zusammenhang mit der Digitalisierung verwendet.
Jede Reform gebiert die nächste Reform
Fakt ist: Egal, welche Reformen in den vergangenen Jahren insbesondere im Gesundheitswesen angegangen wurden: Sie verdienten die Bezeichnung Reform nicht. Aus der Perspektive der Patientinnen und Patienten wie auch derjenigen, welche die Versorgung leisten, hat keine der sogenannten Reformen das versprochene Ziel erreicht. Stattdessen folgt seit 30 Jahren auf jede Reform sofort die nächste Reform. Das ist nun das Gegenteil einer planvollen Umgestaltung.
Die einzige Konstante war und ist die permanente Zunahme der Bürokratie, die es aber auch nicht schafft, den modernen politischen Mantras von mehr Transparenz und mehr Gerechtigkeit näher zu kommen. Insbesondere die Bürokratie wächst sich zum Sargnagel einer flächendeckenden Versorgung aus. Was natürlich keinen Reformer interessiert.
Die Reform frisst ihre Kinder
Und das nicht nur im Gesundheitswesen. Ein typisches Beispiel liefert das derzeit aktuellste Machwerk aus Lauterbachs Reformschmiede, das „Gesetz zum kontrollierten Umgang mit Cannabis und zur Änderung weiterer Vorschriften (CanG)“. Das Cannabisgesetz soll bekanntlich zu 1. April dieses Jahres (kein Scherz) in Kraft treten. Parlamentarisch scheint man sich vor den finalen Beratungen bereits soweit geeinigt zu haben, dass eine Mehrheit steht.
Doch nun schlagen die Strafverfolger Alarm und melden ernsthafte Zweifel an dem Gesetz zur Entkriminalisierung der Cannabiskonsumenten. Zitat: „Rückwirkender Straferlass bereitet Sorgen – Strafjustiz droht Cannabis-Kollaps. Die Entkriminalisierung der Cannabis-Konsumenten zum 1. April 2024 bereitet Strafverfolgern massive Kopfschmerzen. Der Grund: Wegen einer Art Amnestie-Regelung im Gesetz müssen tausende Akten überprüft werden. Kaum zu stemmen […].“
„Unforced error?“
Damit bekommt die wie auch immer zu bezeichnende Entkriminalisierung einer Droge eine weitere neue Facette und die Rechtssicherheit eine weitere massive Delle. Den Artikel zu lesen ist auf jeden Fall die Zeit wert, beleuchtet dieser doch aus einer anderen Perspektive das identische Problem, dem wir seit Jahren und zunehmend im Gesundheitswesen ausgesetzt sind. Denn welcher Rechtsreferent kommt auf die Idee, eine strafrechtsrelevante Gesetzesgrundlage rückwirkend so zu verändern, dass in laufende Verfahren direkt eingegriffen wird? Wohl wissend, dass der dadurch ausgelöste zusätzliche Arbeitsanfall mit den vorhandenen Ressourcen nicht zu bewältigen ist.
Wie war das noch mit dem Fisch, der vom Kopf …? Da stellt sich bei all den halbgaren Reformgesetzen aus dem Hause Lauterbach je nach Blickpunkt nicht mehr die Frage, ob es sich um Unbedarftheit, vielleicht Dummheit oder doch Absicht handelt.
Die ePA: Das trojanische Pferd steht vor der Tür
Von dieser „fischigen“ Tradition wurde und wird die TI fast vollständig geprägt. Wenn es in den vergangenen 20 Jahren je ein planvolles Handeln gab, dann kam es nicht von den sogenannten politischen Reformatoren. Bis auf die permanent zunehmenden bürokratischen Aufwände samt gesetzlich verhängter Sanktionitis. In diese Tradition reiht sich auch die neu konzipierte elektronische Patientenakte (ePA) nahtlos ein, die Anfang 2025 verpflichtend werden soll. Die Freie Ärzteschaft benannte es in Ihrer Pressemeldung vom 16. Februar so: „Keine Sicherheit, kein Mehrwert – dafür Risiken für Anwender!“
Leistungserbringer sind sich in Bewertung einig
Die Minderheitsgesellschafter der Gematik – Bundesärztekammer (BÄK), Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV), Bundeszahnärztekammer (BZÄK), Kassenzahnärztliche Bundesvereinigung (KZBV), Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG) und der Deutsche Apothekerverein (DAV) veröffentlichten vergangene Woche nach der Gesellschafterversammlung zu der neuen Spezifikation tatsächlich eine gemeinsame(!) Pressemitteilung zu der neuen technischen Spezifikation. Und die hat es in sich. Zitat: „Die ‚ePA für alle‘ muss daher einen deutlichen Mehrwert zu den derzeit von den Krankenkassen anzubietenden elektronischen Patientenakten vorweisen. Dies ist leider in der nun für den Start der ‚ePA für alle‘ vorgesehenen Basisversion nicht ausreichend erkennbar. Es fehlen nach wie vor elementare Bestandteile, die für eine nutzenstiftende Verwendung im Versorgungsalltag benötigt werden. So ist zum Beispiel keine Volltextsuche der Inhalte einer elektronischen Patientenakte möglich, ein zentraler Virenscanner für die Inhalte der ePA ist ebenfalls nicht vorgesehen. Zwar soll der im Gesetz geforderte digitale Medikationsprozess noch für den Start der ePA nachspezifiziert werden. Alle anderen Kritikpunkte sollen jedoch entweder gar nicht oder erst in Nachfolgeversionen der ePA berücksichtigt werden. Letztlich haben diese offenen Punkte dazu geführt, dass keine Leistungserbringerorganisation in der Gematik der Freigabe des Dokumentenpakets zugestimmt hat“.
Da aber die aufgeführten Gesellschafter nicht über die Mehrheit in der Gematik verfügen, nützte das Dagegenstimmen formal wenig und inhaltlich nichts. Dr. Karl Georg Pochhammer, stellvertretender Vorstandsvorsitzener der KZBV, kommentierte am 14. Februar 2024 die Entscheidung der Gesellschafter unter anderem auf X, vormals Twitter, daher so: „Die neue ‚ePA für alle‘ muss von Anfang an mehr Nutzen liefern als die aktuelle ePA. Das ist in der nun verabschiedeten Version leider nicht erkennbar – wichtige Features fehlen. Zudem stören wir uns an den verpflichtenden Datenlieferungen aus der Praxissoftware, auch wenn es zunächst nur technische Messwerte sind. Daher hat die KZBV Nachbesserungen eingefordert und in der Gematik-Gesellschafterversammlung gegen die Freigabe der Dokumentenpakets gestimmt“.
Die zwei Gesichter von Lauterbach und ePA
Da war er schon wieder, der Nicht-Nutzen. Aus Sicht der Leistungserbringer (und auch der Patientinnen und Patienten) ist außer zusätzlichen zeitlichen und finanziellen Aufwendungen inklusive Belastungen des Arzt-Patientenverhältnisses mal wieder keiner drin. Doch wie immer im Leben hat jede Medaille, auch die ePA-Reformmedaille, zwei Seiten. Und damit kommen wir zu dem Nutzen, den Lauterbach in seinem Gesundheitsdatennutzungsgesetz im vergangenen Jahr festgeschrieben hat: Die wirtschaftliche Nutzung der persönlichen Patientendaten für Forschung und IT-Wirtschaft. Und nach 20 Jahren TI 1.0 kommt in nicht allzuferner Zukunft die TI 2.0 samt zentraler Massenspeicherung der Daten in der Cloud. Damit ist auch dann auch geklärt, auf welcher Seite das digitale Wolkenkuckucksheim BMG und Gematik steht.
Warum nicht raus aus der Gematik?
Apropos Lauterbach, roter Teppich und Wahlkampfmodus: Warum schmeißen die Gesellschafter der Leistungsträger als Minderheitsgesellschafter der Gematik Ihre Anteile nicht einfach vor die Füße, wenn sie offensichtlich nichts bewegen können? Es ist doch offensichtlich, dass auch dieser Minister die Leistungsträger nicht als kompetente Mitstreiter einer sinnvollen Digitalisierung des Gesundheitswesens sieht, sondern vielmehr als Feigenblatt gebraucht, um nicht zu sagen missbraucht. Das geht nicht wegen der Bücher, weil ansonsten der Anteilswert bei dem zeitlich terminierten Übergang auf das BMG im Risiko steht? Natürlich geht das, Lauterbach macht es doch permanent vor. Das Zauberwort heißt „vordergründig“.
Doppelter Risikofaktor ePA und KI
Denn die „ePA neu“ ist für die Leistungserbringer ein viel größeres Risiko. Diese hat in ihrer geplanten Form meines Erachtens nicht nur das Potenzial, die Arzt-Patienten-Beziehung dauerhaft zu beschädigen, sondern auch eine technisierte, digitale Medizin Realität werden zu lassen. Die KI wird es möglich machen. Und Lauterbach hätte seine Vorstellung umgesetzt. Alles natürlich nur, um eine Lösung für den Heilberuflermangel zu ermöglichen (Ironie aus).
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.