Bei der instrumentellen Bewegungsaufzeichnung zur Artikulatorprogrammierung hat sich die elektronische computergestützte Registrierung durchgesetzt. Jenseits dieses Anwendungsbereichs ist mittlerweile die instrumentelle computergestützte Bewegungsaufzeichnung in Protrusion, Laterotrusion und zusätzlich ohne Zahnkontakt als Grundlage der funktionellen Bewegungsanalyse eingeführt. Die wissenschaftlichen Grundlagen hierfür wurden seit mehreren Jahren entwickelt, und mittlerweile ist das Vorgehen praxistauglich. Wie sich das diagnostische Vorgehen in der Praxis auch digital umsetzen lässt, beschreibt der folgende Beitrag.
Instrumentelle Bewegungsaufzeichnung zur Artikulatorprogrammierung
Die elektronische Bewegungsaufzeichnung ist schon seit den Forschungsarbeiten von Meyer und dal Ri in deren gemeinsamer Göttinger Zeit realisiert. Das Vorgehen übertrug erstmals die klassische Pantographie oder Achsiographie auf der Basis von Schreibstiften und Papieretiketten in die Welt der elektronischen Messdatenerfassung – auch wenn die Messdaten seinerzeit wiederum noch auf Papier geplottet wurden. Insofern war es folgerichtig, im nächsten Schritt auch die Verarbeitung der kondylären Bewegungsdaten zu digitalisieren.
Bis heute werden kondyläre Registriersysteme auf der Grundlage dreier unterschiedlicher Messtechniken von verschiedenen Unternehmen bereitgestellt und angeboten:
- Gamma Dental realisierte mit dem Cadiax-System die Aufzeichnung auf Basis des Prinzips der Spannungsteilung;
- DDI nutzt ein berührungsloses optoelektronisches Messsystem;
- Zebris, KaVo und SAM erfassen die Kieferbewegung mithilfe von Ultraschallmesssystemen.
Die genannten Systeme ermöglichen die Registrierung kondylärer Bewegungen, ausgehend von einer arbiträren oder kinematischen Scharnierachslokalisation, und speichern die Bewegungsverläufe. Im zweiten Schritt können die Anwender dann die geometrischen Parameter für die Artikulatorprogrammierung berechnen. In der Gebührenordnung für Zahnärzte (GOZ) ist dieses Vorgehen in der Leistungsposition 8065 beschrieben („Registrieren von Unterkieferbewegungen mittels elektronischer Aufzeichnung zur Einstellung voll adjustierbarer Artikulatoren und Einstellung nach den gemessenen Werten, je Sitzung).
Die Leistungsbeschreibung umfasst allein die Registrierung zur Artikulatorprogrammierung. Diese Behandlungstechnik ist kein Relikt der Vergangenheit, sondern zunehmend wichtig im Rahmen der digitalen Herstellung von Zahnersatz:
- aus hochfesten (Zirkoniumdioxid-)Keramiken herstellte Restaurationen stellen besonders hohe biologische Anforderungen an die okklusale Passgenauigkeit,
- rechnergestützte Systeme zur Kauflächengestaltung können zukünftig jenseits der Einstellwinkel für analoge Artikulatoren die elektronisch aufgezeichneten Bewegungsverläufe direkt berücksichtigen.
Instrumentelle funktionelle Bewegungsanalyse
Als neue Untersuchungstechnik hat sich die funktionelle Bewegungsanalyse entwickelt. Diese beruht ebenfalls auf der Auswertung von Bewegungsdaten, dient aber nicht „[…]zur Einstellung voll adjustierbarer Artikulatoren […]“, sondern zur funktionellen Analyse der der neuromuskulär gesteuerten Kieferbewegung.
Die Grundlagen dieser Untersuchungstechnik wurden bereits seit mehreren Dekaden von verschiedenen Arbeitsgruppen entwickelt. Zur Strukturierung dieses Wissens veranstaltete hat die DGFDT 2012 einen Workshop und veröffentlichte dessen Ergebnisse 2013 (Open Access!) im Journal of craniomandibular Function (CMF) als Diagnosis Criteria for Dysfunction (DCD).
Einen Vorschlag zur deren Umsetzung in der Praxis veröffentlichte 2014 eine multizentrische Arbeitsgruppe als Motion analysis of the mandible: concept for standardized evaluation of computer-assisted recording of condylar movements, ebenfalls Open Access in der CMF. Die Veröffentlichung wurde mit dem Alex-Motsch-Preis der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT) 2015 prämiert und die die Inhalte flossen in die Leitlinie Instrumentelle Funktionsanalyse (S2k) ein. Damit ist das Verfahren der funktionellen Bewegungsanalyse in aller Form inhaltlich anerkannt und rechtlich abgesichert.
Die Bundeszahnärztekammer hat es daher in den Katalog selbstständiger zahnärztlicher gemäß § 6 Abs. 1 GOZ analog zu berechnender Leistungen aufgenommen („Analogliste“) und der bei Kammern und Gerichten verwandte Kommentar nach Liebold Raff Wissing beschreibt die Leistung ausführlich.
Bisher erfolgte die Auswertung analog
Praktisch besteht der erste Schritt der Leistung in der Durchführung der erforderlichen computergestützten Bewegungsaufzeichnungen. Je nach Registriersystem sind für die funktionelle Bewegungsanalyse zusätzliche Aufzeichnungen der Kieferbewegung in der Sagittalen ohne Zahnkontakt erforderlich (Cadiax, Fa. Gamma Dental), oder alle Bewegungen werden erneut mit einem gesonderten Funktions-Modul registriert (JMAnalyzer plus, Firma Zebris/Schütz Dental).
Auf die Durchmusterung der Aufzeichnungen folgt dann deren schrittweise Befundung. Den bisherigen Standard bildet der Befundbogen „Instrumentelle Bewegungsanalyse“ (dentaConcept Verlag). Dieser gibt inhaltlich zunächst vor, welche Informationen zu den Rahmenbedingungen für die nachfolgende Auswertung erforderlich sind, von den Registriersystemen selbst aber nicht erfasst und bereitgestellt werden.
Im weiteren Verlauf erfolgt dann die Bewertung der eigentlichen Bewegungsverläufe nach den Kriterien:
- Zentrikstabilität,
- Bewegungskapazität,
- Bewegungsverlauf,
- Koordination.
Die Abbildungen in der nachfolgenden Bilderstrecke erläutern die Grundprinzipien dieser Auswertungen.
Im Nachgang erfolgt die eigentliche Auswertung und diagnostische Zuordnung, auf dem Befundbogen bisher als Freitext. Da aber in deutschen Zahnarztpraxen als Folge komplexer Abrechnungsvorgaben und neuerlich der sogenannten Telematik-Infrastruktur faktisch die computergestützte Karteiführung vorgegeben wird bedingt dies im weiteren Verlauf die händische Übertragung der Auswertung und den Scan des Befundbogens sowie seine Ablage in der digitalen Patientenkartei. Das geht natürlich effizienter.
Potential einer digitalen Lösung und ihre Umsetzung
Die Digitalisierung sollte sich aber nicht allein auf das Überführen eines papiernen Formblatts in ein ausfüllbares Dokument beschränken – das wäre wie der Ersatz einer Schallplatte durch eine CD: neues Medium, gleiche Art der Nutzung. Ziel einer durchdachten digitalen Lösung sollten daher neben einem Effizienzgewinn zusätzliche medizinische Vorteile sein, etwa
- Integration der Befunde mit den Befunden aus anderen Untersuchungen,
- assistierte Zuordnung der Befunde zu Diagnosen,
- Kontextsensitives Hilfesystem als inhaltliche Anleitung für den Zahnarzt.
Wünschenswert wäre zudem eine herstellerunabhängige Konzeption, um nicht an ein Registriersystem gebunden zu sein und zudem die Daten auch bei einem Systemwechsel weiterhin nutzen zu können.
Ein solche Lösung ist daher unter Mitwirkung des Autors in Form der Software CMDtrace entstanden. Hierbei handelt es sich um ein Modul zur instrumentellen Bewegungsanalyse für die Software CMDfact. Dies gewährleistet zunächst den Zugang zu den in weiteren CMDfact-Modulen gespeicherten Befunden aus der klinischen Funktionsanalyse (CMDstatus, der manuellen Strukturanalyse (CMDmanu) und dem Schmerzverlauf (CMDpain). Zudem ermöglicht der in CMDfact integrierte DiagnosePilot die geforderte integrierte Befundauswertung und die assistierte Zuordnung zu Diagnosen. Dies ist umso wichtiger, als in einer gerade im International Journal of Computerized Dentistry erschienenen Studie gezeigt werden konnte, dass diese Art der Diagnosestellung zu qualitativ besseren Diagnosen führt, als das traditionelle Vorgehen „im Kopf“, und zudem die Dokumentation vereinfacht: Es ist einfacher, Diagnosen anzuklicken als sie nacheinander alle aufzuschreiben oder einzutippen (hier zur Kurzfassung der Studie). Verfügbar ist die Software sowohl für Windows 7-10 (32 und 64 bit) als auch für Mac-OS (ab 10.8). Die Patientendaten tauscht sie mit der Praxissoftware über die VDDSmedia-Schnittstelle aus; die Praxis muss die Stammdaten daher nicht erneut eintragen.
Praktisches Vorgehen
Praktisch entspricht das Vorgehen zunächst dem bekannten Standard – siehe oben. CMDtrace wird aber auf der Benutzeroberfläche gleich neben die Software des Registriersystems positioniert – es öffnet sich dafür gleich am rechten Bildschirmrand. Der Zahnarzt oder seine Behandlungsassistentin können so schon während der Durchmusterung die Rahmenbedingungen anklicken. Anschließend führt CMDtrace den Zahnarzt durch die Einzelbefunde und stellt so einen vorgegebenen Qualitätsstandard sicher – wichtig sowohl in der Einzelpraxis als auch in größeren Praxen, die gleichsam automatisch ein einheitliches Qualitätsniveau erreichen möchten. Das Patientenrechtegesetz verlangt die Dokumentation im unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang – auch das ist dadurch ideal umgesetzt.
Rechts unten ist auf Bildschirmseite mit dem Schalter „Anleitung“ direkt ein kurzer Text erreichbar, der kontextsensitiv erklärt, worauf bei den Befunden zu achten ist. Darunter befindet sich ein Schalter mit der Aufschrift „PDF“. Ein Klick öffnet eine umfangreiche illustrierte Anleitung genau der Stelle der aktuellen Befundung und illustriert die Befundungskriterien. Ein Teil der Abbildungen ist in der Bildstrecke in diesem Beitrag wiedergegeben und vermittelt einen transparenten Einstieg.
Zum Aufschluss der Befundung folgt eine computerassistierte Auswertung. Diese durchsucht automatisch alle erhobenen Befunde, strukturiert nach den oben genannten Kriterien Zentrikstabilität, Bewegungskapazität, Bewegungsverlauf und Bewegungskoordination und schlägt eine erste Bewertung vor. Die Software speichert diese jedoch nicht, sie steht gleichsam virtuell im Arbeitsspeicher. Erst wenn der Zahnarzt diese geprüft, angepasst und per Mausklick bestätigt hat wird der Befund gespeichert und auf Wunsch mit ausgedruckt – zusammen mit allen Befunden auf einem Befundbogen, der eine Weiterentwicklung des oben genannten Befundbogen Instrumentelle Funktionsanalyse darstellt. Zudem besteht die Möglichkeit, die Auswertung als Textstring über die Zwischenablage in die Praxisverwaltungssoftware zu exportieren.
Integrierte Diagnostik
Das Ziel der integrierten Diagnostik wird schließlich durch die Einbindung in den digitalen DiagnosePilot erreicht. Darin sind links die möglichen Diagnosen untereinander anklickbar aufgelistet. Beim Überstreichen einer möglichen Diagnose mit der Maus erscheinen dann rechts die dazu jeweils passenden Befunde aus den verschiedenen Untersuchungen, gewichtet als jeweils besonders prägendes Leitsymptom, als zu der Diagnose „passender“ Befund und als potentiell widersprüchlicher „nicht passender Befund“.
Nutzen für Zahnarzt und Patienten?
Eine Nutzenbewertung des Verfahrens ist bei der Aufnahme in die Leitlinie instrumentelle Funktionsanalyse (S2k) bereits erfolgt. Es ermöglicht einerseits dem Zahnarzt – ohne Rückgriff auf ein schwierig zu erreichendes MRT – spezifische Rückschlüsse auf strukturelle Gelenkpathologien. Zudem erlaubt insbesondere die Auswertung der Bewegungskoordination wertvolle Rückschlüsse auf die Qualität der neuromuskulären Koordination. In der Funktionstherapie erlaubt der Vergleich zur Ausgangssituation die objektive Bewertung der Veränderung jenseits des subjektiven Schmerzerlebens. Und sofern eine restaurative Behandlung nach Funktionstherapie erforderlich und geplant ist ermöglicht die Untersuchungstechnik mit getragener Positionierungsschiene eine Bewertung, ob der Patient die Kieferposition physiologisch ansteuert oder nicht.
Der praktische und medizinische Vorteil der integrierten digitalen Lösung erschließt sich aus den Abbildungen der beiden Bilderstrecken im Beitrag.
PD Dr. Oliver Ahlers, Hamburg
Lesen Sie zum Thema Klinische Funktionsanalyse auch die Beiträge „CMD-Screening vor der Verordnung von Physiotherapie“; „CMD-Screening vor der Anfertigung von Zahnersatz ein Muss“, „CMD-Screening mit dem CMD-Kurzbefund“; „Erfassung psychischer Kofaktoren bei Patienten mit schmerzhaften kraniomandibulären Dysfunktionen“,„Klinische Funktionsanalyse: Diagnose ist Teil der GOZ 8000“ und „Manuelle Strukturanalyse ist Ergänzung, nicht Ersatz der klinischen Funktionsanalyse“.
PD Dr. Oliver Ahlers, Hamburg, studierte von1982 bis 1988 Zahnmedizin in Hamburg und schloss das Studium mit Staatsexamen und Approbation ab. Ab 1989 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Poliklinik für Zahnerhaltung am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKA), später Oberarzt und stellvertretender Direktor der Poliklinik, 1992 erfolge die Promotion. Seine Arbeitsgebiete sind die Zahnärztliche Funktionsdiagnostik und -therapie sowie funktionelle und ästhetische Restaurationen.
Seit 1992 leitet Ahlers den Arbeitskreis CMD und chronische Schmerzen der Zahnärztekammer Hamburg, im selben Jahr übernahm er auch die Leitung der Dysfunktions-Sprechstunde der ZMK-Klinik (zusammen mit Dr. Jakstat). Seit 2001 ist er Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Funktionsdiagnostik und –therapie (DGFDT).
Nach seiner Habilitation im Jahr 2004 gründete er 2005 das CMD-Centrum Hamburg-Eppendorf, dessen ärztliche Leitung er innehat und das 2010 als erste postgraduierte Ausbildungsstätte für „Spezialisten für Funktionsdiagnostik und -therapie (DGFDT)“ zertifiziert wurde. 2005 wurde er zum Spezialisten für Funktionsdiagnostik und -therapie der DGFDT ernannt, seit 2008 ist er Mitglied der Redaktion des zweisprachigen „Journals of CranioMandibular Function (CMF)“.
Ahlers ist vielfach mit wissenschaftlichen Preisen ausgezeichnet, so mit Tagungsbestpreisen der DGFDT in den Jahren 1996, 2001, 2008, 2009 und 2011, sowie mit dem Alex-Motsch-Preis der DGFDT für die beste wissenschaftliche Publikation des Jahres im Journal for Craniomandibular Function (CMF) in den Jahren 2015, 2016 und 2017. Von ihm liegen zahlreiche Zeitschriftenpublikationen und mehrere Lehrbücher vor. Er ist zudem in der Entwicklung von Software für die zahnärztliche Funktionsanalyse sowie zahlreicher Medizinprodukte aktiv. (Foto: Reetz)