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Prof. Rudolf Slavicek (✝︎) im Alter von 93 Jahren gestorben – im Interview mit Prof. Jens Türp sprach er über das, was ihn zahnmedizinisch ein Leben lang begleitet hat

Prof. Dr. Rudolf Slavicek (✝︎) und Prof. Dr. Jens Türp

Für Zahnmedizinerinnen und Zahnmediziner in aller Welt begann das neue Jahr mit einer traurigen Nachricht: Prof. Dr. Rudolf Slavicek ist am 1. Januar 2022 in Wien im Alter von 93 Jahren gestorben. Sein großes Engagement für die Gnathologie, für das Verständnis von Funktion und Okklusion und sein Einsatz für eine ZahnMedizin, die den ganzen Menschen in den Blick nimmt, prägte und prägt Generationen von Zahnärztinnen und Zahnärzten. Über die von ihm 2008 mitgegründete Vienna School of Interdisciplinary Dentistry vermittelte er in vielen Ländern der Welt den Ansatz der „Wiener Schule“ der Zahnmedizin.
 
„Ich möchte ganz klar betonen: Zahnheilkunde im Sinne von Zahnmedizin ist eine Gesamterfassung eines Menschen. Es sitzt nicht der Herr Sowieso im Sessel, sondern es sitzt ein Individuum und dieses bedarf einer Zuwendung. Ohne Zuwendung geht’s ganz einfach nicht in der Zahnheilkunde. Ich hab mich immer wieder auf jeden neuen Patienten gefreut und ich war interessiert daran.“ Dieses Statement, das seine Philosophie zusammenfasst, gab Slavicek im Gespräch mit Prof. Dr. Jens Türp im September 2020 in Wien.

Slavicek war auch dem Quintessenz Verlag verbunden. In den 1970er- und 1980er-Jahren führte er unter anderem Videointerviews mit Pionieren der Zahnheilkunde. Der Verlag trauert um einen bedeutenden ZahnMediziner, der mit seiner Arbeit die Welt der Zahnmedizin verändert und geprägt hat. Unsere Anteilnahme gilt seiner Familie.

Zu Ehren von Prof. Slavicek veröffentlichen wir nachfolgend das Interview mit Prof. Türp, das im vergangenen Jahr im Journal of Craniomandibular Function (CMF) erschienen ist.

 

3. September 2020. Alsergrund, 9. Wiener Gemeindebezirk. 15 Gehminuten von der Universitätszahnklinik entfernt. Auf einer Klingel in einem mehrstöckigen Haus steht der berühmte Name: Slavicek. Ich schelle, nehme den Aufzug, fahre in den fünften Stock. Die Tür ist schon einen Spaltbreit geöffnet. Ich trete ein, Professor Slavicek sitzt am Tisch, lacht. Herzliche Begrüßung in gebührendem Abstand – die derzeitige COVID-19-Pandemie zwingt zu veränderten Verhaltensweisen. Nach einem Sturz ist Professor Slavicek nicht mehr so beweglich wie früher. Dessen ungeachtet tritt er täglich ins Fahrrad-Ergometer. Zudem hält ihn ein Physiotherapeut regelmäßig auf Trab. Geistig ist er hellwach. Es ist eine Freude, mit ihm zu parlieren und zu fachsimpeln. Meine Tochter Paulina hat ihm ein Bild gemalt (Abb. 1a bis c), über das er sich sehr freut.

JT: Rudi, Du bist jetzt im 93. Lebensjahr. Wie geht es Dir?

Abb. 2 Prof. Dr. Rudolf Slavicek
Abb. 2 Prof. Dr. Rudolf Slavicek
RS: Mir? Gut! Wenn ich geistig tätig sein kann, geht es mir gut (Abb. 2).

JT: Das glaube ich gerne. Stimmt es eigentlich, dass Du vor Deiner beispiellosen universitären Karriere1 als niedergelassener Zahnarzt in einer Praxis tätig warst?

RS: Natürlich! Ich bin ein Späteinsteiger in die Universitätslaufbahn, weil mich mein damaliger Lehrer, Professor Keresztesi, zurückgerufen hat, da die damalige Universität einen Mangel an Ausbildung in Gnathologie hatte. Ich sollte ein Collegium publicum gnathologicum – geschwollener Name [lacht] – durchführen. Ich sollte eine Vorlesung halten, um den damaligen – wie wir in Österreich sagen – Dienststand, das sind die jungen Assistenzärzte, einzuführen in dieses neue Thema. Und ich habe dort einmal in der Woche eine Stunde Unterricht gemacht, ein Semester lang.

JT: Wie lange warst Du denn in einer Praxis tätig?

RS: Jetzt muss ich nachdenken … Wie lange war ich niedergelassen? … Ich war ja noch niedergelassen, als ich schon an der Universität tätig war. Der Weg war ein eigenartiger. Ich hatte nie mehr daran gedacht, an die Hochschule zu gehen, sondern in der Praxis zu bleiben. Dort war ich relativ universell tätig mit speziellem Interesse an der Okklusion und an der Artikulation, meinem Spezialgebiet.

JT: In der Praxis?

RS: In der Praxis. Ich habe viel praktische Erfahrung dazu mitgenommen und habe immer Hands-on-Dentistry betrieben.

JT: Wie viele Jahre warst Du insgesamt in der Praxis? Zehn Jahre?

RS: Ohh, … (winkt ab).

JT: Länger?

RS: Vierzig.

JT: Nein, im Ernst?

RS: Mehr als vierzig.

JT: Vierzig Jahre niedergelassen?

RS: Ja, ja, niedergelassen.

JT: Aber davon ein großer Teil überlappend, oder? Sowohl Uni als auch Praxis!?

RS: Richtig!

JT: Wie kam es überhaupt dazu, dass Du zurück an die Uni gingst?

RS: Keresztesi hat dann gesagt: „Ich kann Sie nicht permanent mit einem halben Titular herumlaufen lassen, sondern ich möchte gerne, dass Sie habilitieren.“ Da hab ich gesagt: „Um Gottes Willen, wieso soll ich das? Was soll ich da?“. Wenn man das macht, muss man auch wissenschaftlich arbeiten. Und da hab ich dann die ersten Sporen verdient, indem ich die Funktionen des Kauorgans publiziert habe, „Die funktionellen Determinanten des Kauorgans“2.

JT: Wie alt warst da?

RS: Fünfundvierzig. Ein spätberufener Fünfundvierzigjähriger. [lacht]

JT: Aber auch die Kieferorthopädie hatte eine gewisse Bedeutung für Deinen beruflichen Werdegang, nicht wahr?

RS: Natürlich. Ich kann eine Trennung zwischen der Kieferorthopädie und der Prothetik nicht vollziehen. Es hat ja alles mit denselben Werkzeugen zu tun und mit der Okklusion. Zähne sind Tools, die man zum Gebrauch verwendet, und warum sollte man einen Unterschied machen, ob es Kieferorthopädie ist oder Prothetik oder von mir aus maxillofaziale Chirurgie? Alles verfolgt ja denselben Zweck: Das Kauorgan wieder tauglich zu machen zum Gebrauch.

JT: Und von daher auch die Zusammenarbeit mit Professor Sato.

RS: Ja natürlich!

JT: Wo hast Du ihn kennengelernt?

RS: Er hat mich, ohne mich zu kennen, nach Japan eingeladen, unter dem Titel „Der hat völlig Neues zu bieten!“. Er meinte mich. [lacht] Und ich hab eine Vorlesung gehalten für drei Tage, musste simultan übersetzt werden. Die Veranstaltung war hervorragend gemanagt und sehr erfolgreich.

JT: In den 1970er- Anfang der 1980er-Jahre trafen sich viele Funktionsinteressierte in der damaligen Arbeitsgemeinschaft für Funktionsdiagnostik in Bad Nauheim, später in Bad Homburg.

RS: Richtig. Dort hab ich ja Vorträge gehalten.

JT: Und dann gab es auch die Neue Gruppe…

RS: Sagen wir so: Die Neue Gruppe war mir nicht sehr gewogen.

JT: Warum?

RS: Weil die Neue Gruppe in der damaligen Zeit snobistisch war.

JT: Ach so!? [lacht]

RS: Die Neue Gruppe ist eine Modeerscheinung gewesen. Aber der damalige Vorsitzende hat mich sozusagen auf gut Glück zu einem Vortrag eingeladen. Es war ein durchschlagender Erfolg. Ich hatte damals eine sehr eloquente Systematik entwickelt. Ich würde sagen, sie haben mich warmherzig aufgenommen, aber sie haben a bisserl einen Dünkel gehabt.

JT: Welchen Einfluss auf Dein Denken und Handeln hatten Persönlichkeiten aus Nordamerika, den USA, in Zusammenhang mit der Gnathologie?

RS: [lacht] Wahnsinnig viel. Und zwar hab ich das Glück gehabt, Arne Lauritzen sehr persönlich kennenzulernen, und gleichzeitig auch Lundeen, Wirth, Gibbs, Ramfjord. Wir haben damals ein sehr hohes Potenzial an Diskussionskultur gehabt.

JT: Ah ja. Das ist heute nicht mehr so, oder?

RS: Kaum. Die Diskussionsfreudigkeit war früher sehr, sehr gut. Ohne Eifersüchteleien, oftmals auch hart, und sehr kultiviert hart, aber direkt und nicht, wie man so schön sagt, mit Hackeln im Kreuz.

JT: Was bedeutet für Dich „die Okklusion“?

RS: Okklusion ist ein zentraler Bestandteil des stomato­gnathen Systems, und ich meine das wirklich im Sinne des Wortes „stomatognath“. Das heißt also, die Okklusion ist für mich ein notwendiges Werkzeug, das von den Fossilien hinüber in die Jetztzeit denselben Charakter behalten hat. Die darauf beruhenden Konzepte sind dagegen künstliche Ordnungsprinzipien.

Abb. 3 Zähne und Hominisation – eines von Rudolf Slaviceks Forschungsfeldern (immer noch!).
Abb. 3 Zähne und Hominisation – eines von Rudolf Slaviceks Forschungsfeldern (immer noch!).
Die Okklusion ist ein natürlicher und wesentlicher Bestandteil des Menschen und ein natürliches Erfordernis zum Überleben. Interessanterweise stand die Okklusion im Zentrum der Hominisation (Abb. 3).

Die Funktion des Kauorgans, was ist das? Das Kauorgan ist das zentralste Organ im menschlichen Körper. Was dagegen ist ein dummes Herz? Es ist ein Muskel.

Hirn und Kauorgan sind auf das innigste verbunden. Der Mensch hat sich durch die Entwicklung des Gehirns und des Kauorgans selbst geschaffen.

Ich glaube, dass das Wort „Kauorgan“ eine begriffliche Einengung ist, weil die Okklusion eine sehr vielfältige Bedeutung hat als ein Werkzeug, mit dem gleichzeitig Sprache, Emotion und Ausdruck in die verbale und nonverbale Kommunikation hineingebracht werden. Was hat das mit Kau-Organ zu tun? Das ist ein blöder Begriff. Der ursprüngliche Titel meines Buchs3 hat geheißen „Das sogenannte Kauorgan“.

Das ZNS ist unmittelbar und derart vernetzt mit dem Gehirn, dass es müßig wäre, auf ein sogenanntes „Kauor­gan“ einengen zu wollen. Wir verwenden das Kauorgan zum Kauen wie lang am Tag? 20 Minuten, 30 Minuten, je nachdem. Aber reden, kommunizieren tut man ständig. Die Zähne sind ein Werkzeug der Sprache, der Kommunikation. Der Mensch hat sich durch seine Sprache selbst geschaffen. Popper. Das ist ein wunderbares Zitat. Kommunikation kann auch nonverbal sein. Das „Kauorgan“ kann mit den Zähnen fletschen, es kann grimmig sein, es kann lächeln. Daher „sogenanntes“ Kauorgan. Wir haben einen einengenden Begriff, der nur mit einer wesentlichen Erweiterung der Begrifflichkeit seinen vielfältigen Aufgaben gerecht wird.

JT: Im Jahre 2008 hast Du zusammen mit Mitstreitern die Vienna School of Interdisciplinary Dentistry (VieSID) ins Leben gerufen. Seitdem findet jährlich – außer in diesem Jahr wegen der Corona-Pandemie – in Zusammenarbeit mit der Universitätszahnklinik der Medizinischen Universität Wien die legendäre, mehrtätige Summer School statt, zu der Teilnehmer aus aller Welt anreisen.

RS: Ja. [lacht]

JT: Ich war bislang dreimal als Referent bei der Summer School geladen und war jedes Mal beeindruckt: von der Vielzahl der behandelten Themen, der großen Teilnehmerzahl aus aller Welt – Russen und Chinesen brachten gar eigene Übersetzer mit – und der kollegialen Atmosphäre mit einer von Dir schon angesprochenen vorbildlichen Diskussionskultur. Die VieSID ist zudem in einem Dutzend weiterer Länder in Europa Nord- und Lateinamerika und Asien aktiv, wie ich auf Eurer Webseite viesid.com gesehen habe. Die VieSID ist „Dein“ Baby – kann man das so sagen?

RS: Das Baby meines Sohns Christian. Er ist kein Zahnarzt, aber der Organisator der Sommerschule.

JT: Aber wessen Idee war es?

RS: Das kann ich auf meine Kappe nehmen. [lacht]

JT: Welche zukünftigen Entwicklungen siehst Du für Eure „Wiener Schule“, in welche Richtung wird es gehen?

RS: Die Wiener Schule der Zahnheilkunde hat unmittelbar mit der Zahnmedizin zu tun, mit Betonung auf Medizin: Vienna Medical School of Dentistry.

JT: Und Ihr habt auch Nachwuchs in der VieSID?

RS: Ja natürlich, auch international. Lateinamerika ist dabei, wir haben in Guatemala einen Schwerpunkt. Nicht so in Nordamerika. Warum weiß ich nicht, vielleicht weil sie zu kommerziell denken.

JT: Ein anderes Thema: Wer wissenschaftlich tätig ist, muss schreiben und veröffentlichen. Auch wenn dies heute weitgehend auf Englisch in internationalen Fachzeitschriften erfolgt, spielen die Fachorgane nationaler wissenschaftlicher Fachgesellschaften weiterhin eine wichtige Rolle. So ist die Deutsche Zahnärztliche Zeitschrift das Publikationsorgan der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), das Swiss Dental Journal, welches bis 2013 Schweizerische Monatsschrift für Zahnmedizin hieß, ist das Organ der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft (SSO). Vergleichbares galt für Österreich: Im Jahre 1902 erschien erstmals die Österreichische Zeitschrift für Stomatologie, 1921 in Zeitschrift für Stomatologie umbenannt, 1949 in Österreichische Zeitschrift für Stomatologie rückbenannt, 1984 dann wieder als Zeitschrift für Stomatologie geführt und ab 1995 unter dem kurzen Titel Stomatologie. Dieses ehrwürdige Fachjournal erlebte 112 Jahrgänge, bevor es Ende 2015 sang- und klanglos eingestellt wurde. Seitdem besitzt die österreichische Zahnmedizin keine eigene Fachzeitschrift mehr.

RS: Das ist die Standespolitik, die sich offensichtlich nicht entblödet hat, eine alte ehrwürdige Zeitschrift zu dekapitieren.

JT: Die Zeitschrift für Stomatologie war immerhin ein weit über die Grenzen wirkendes Aushängeschild der österreichischen Zahnmedizin. Und dann, quasi über Nacht, mir nichts, dir nichts, das Ende. Wenn ich mir vorstelle, in der Schweiz würde das Swiss Dental Journal eingestellt … Völlig undenkbar!

Ihr hattet im selben Verlag, nämlich bei Springer Wien, eine weitere Fachzeitschrift herausgebracht, das englischsprachige International Journal of Stomatology & Occlusion Medicine. Wie die Stomatologie war auch diese Zeitschrift ein offizielles Publikationsorgan der Österreichischen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde. Es erschien von Dezember 2008 bis September 2016. Zunächst: Was war die Motivation zur Gründung dieser Zeitschrift?

RS: Wir hatten beabsichtigt, dass wir im Titel schon verankert sagen wollten, Zahn-Medizin, also eine medizinische Zeitschrift, und das sollte der Tenor sein.

JT: Warum wurde auch diese Zeitschrift eingestellt?

RS: Die Standespolitik hat sie abgewürgt.

JT: Zum Glück sind noch alle Ausgaben auf einer Webseite des Springer-Verlags vorhanden.

Bleiben wir bei der Okklusion. Was genau verstehst Du unter dem Begriff „Okklusale Medizin“, oder auf Englisch „Occlusion Medicine“? Wer hat den Begriff geprägt?

RS: Sato und ich, weil wir den Eindruck hatten, dass Zahnmedizin eine „Occlusal Medicine“ ist.

JT: Also Okklusale Medizin statt Zahnmedizin?

RS: Ja!

JT: Andere Frage: Hat für Dich die instrumentelle Funktionsdiagnostik, also vor allem die Axiographie, noch dieselbe Bedeutung wie früher?

RS: Axiographie ist ein kleiner Bestandteil einer systematisch aufgebauten Funktionsanalyse. Es beginnt mit dem Gespräch, das ich für besonders wichtig halte. Es sitzt ja ein Mensch da in dem Sessel. Ich hab nie einen Patienten im zahnärztlichen Stuhl vor mir gehabt, sondern immer leger in einem normalen Sessel, vis-à-vis. Ich wollte beobachten, wie der Patient sich benimmt, und das kann man nicht von oben herab, wenn man zu ihm herunterplappert. Nein, das geht nicht.

JT: War ein Tisch zwischen Euch?

RS: Ja. Man darf dem Patienten nicht das Gefühl geben, ich beherrsche ihn, sondern er muss mit freiem Willen sprechen können. Ich möchte ganz klar betonen: Zahnheilkunde im Sinne von Zahnmedizin ist eine Gesamterfassung eines Menschen. Es sitzt nicht der Herr Sowieso im Sessel, sondern es sitzt ein Individuum und dieses bedarf einer Zuwendung. Ohne Zuwendung geht’s ganz einfach nicht in der Zahnheilkunde. Ich hab mich immer wieder auf jeden neuen Patienten gefreut und ich war interessiert daran. Es ist das wichtigste, einen Patienten zu be-„greifen“, also auch manuelle Kontaktnahme. Eine Muskelanalyse ohne manuelle Kontaktnahme geht nicht.

JT: Wie siehst Du die Anwendung von Artikulatoren heute?

RS: Artikulatoren sind notwendige Instrumente, um Zähne im Detail zu analysieren. Handgehaltene Modelle aus Hartgips habe ich für die ersten Analyse gerne. Aber dann, wenn ich ins Detail gehen will, brauche ich anstelle guter handgehaltener Modelle einen Artikulator.

JT: Im Jahre 2000 veröffentlichtest Du Dein inzwischen legendäres Buch „Das Kauorgan“3. Fünfzehn Jahre später folgte der Dreibänder „Konzepte in der Zahnmedizin Vol. I: Tractatio. Vol. II: Documentatio. Vol. III: Concipio.“4. Ich hatte beide Werke rezensiert5-7und sehr gelobt. Meine Besprechung der „Konzepte“ schloss mit dem Satz: „Für den erlesenen Kreis derjenigen aber, die sich der Funktionsdiagnostik und -therapie verschrieben haben, ist das dreibändige Opus ein Muss – und weit mehr als eine Zierde im gut sortierten persönlichen Fachbuchregal.“ Aber: Die Trilogie von 2015 verkaufte sich nicht gut. Was ist Deiner Ansicht nach der Grund dafür?

RS: Das erste Buch, „Das Kauorgan“, ist einfacher. Die „Konzepte der Zahnmedizin“ sind wesentlich komplexer und es ist nicht die Literatur, die Easy Thinkers goutieren. (lacht)

JT: Das Thema Funktion und Funktionsstörungen des Kauorgans führt an den meisten Universitäten ein Schattendasein – sofern es überhaupt präsent ist. Nur an wenigen Hochschulen sind kompetente Kolleginnen und Kollegen, die das Thema vertreten. Im Gegensatz dazu genießen beispielsweise Ästhetik, Keramik und Implantologie einen ungleich größeren Stellenwert, dafür findet sich in jedem Stockwerk jemand für diese Sachen. Was ist Deiner Einschätzung nach der Grund für die Geringschätzung der Funktionslehre an den deutschsprachigen Universitäten?

RS: Weil sich‘s besser verkaufen lässt, wenn man etwas für die Kosmetik tut und nicht für die Funktion. Porzellan ist aber nicht Ästhetik, Porzellan ist Kosmetik. Ich kümmere mich hinter den Fassaden der Kosmetik mehr um die Funktion, und dies ist nicht mehr populär. Aber offensichtlich haben wir doch international ganz schön Zulauf in der Sommerschule gehabt – warum sollen wir nicht mit kleinen Schritten gegen den Kommerzialismus ankämpfen?

JT: Warum ist klinisch die Beachtung der Funktion so wichtig?

RS: Weil es ohne Funktion ein Ersticken auf halbem Wege wäre.

JT: Welchen Rat, welche Empfehlung kannst Du jungen Zahnmedizinern geben, die noch am Anfang stehen und sich im besonderen Maße der Funktion und den Funktionsstörungen widmen möchten?

RS: Respekt vor der Individualität eines Individuums, das vor Dir sitzt. Period. Ohne das geht’s nicht.

Abb. 4 Interviewter und Interviewer
Abb. 4 Interviewter und Interviewer
JT: Wenn Du die Zeit zurückdrehen könntest: Gibt es etwas, das Du rückblickend anders machen würdest, oder war alles zu seiner Zeit am rechten Platz?

RS: Das ist eine sehr schwierige Frage. Zurückdrehen würde ich ungern etwas, weil ich das Leben als Gesamterfahrung sehe. Und was würde ich anders machen? Eigentlich nichts.

JT: Rudi, das waren meine Fragen. Ich bedanke mich ganz herzlich! (Abb. 4)

Hinweis

Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt besteht. Der Beitrag wurde nicht finanziell durch Dritte unterstützt.

Das Interview fand am 3. September 2020 statt und war mit Professor Slaviceks Einverständnis aufgezeichnet worden. Professor Slavicek hat den transkribierten Text vor dem Einreichen an den Verlag überprüft und an einer Stelle (Dauer seiner Tätigkeit in der Privatpraxis) eine Korrektur angefügt.

Ein Beitrag von Prof. Dr. Jens Christoph Türp, Basel, Schweiz

Dieser Beitrag stammt aus der „Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion“ der Quintessenz Verlags-GmbH. Die Zeitschrift berichtet bilingual in Deutsch und Englisch über neue Entwicklungen in Klinik und Forschung. Sie nimmt aktuelle Original- und Übersichtsarbeiten, klinische Fallberichte, interessante Studienergebnisse, Tipps für die Praxis, Tagungsberichte sowie Berichte aus der praktischen Arbeit aus der gesamten Funktionsdiagnostik und -therapie auf. Vierteljährlich informiert sie über Neuigkeiten aus den Fachgesellschaften und bringt aktuelle Kongressinformationen und Buchbesprechungen. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.

Quellen

1. Greven M. Rudolf Slavicek. Biographie eines außergewöhnlichen Mediziners. Bonn, 2018. https://www.researchgate.net/publica
tion/323836139_S_L_A_V_I_C_E_K. Accessed 24 February 2021.

2. Slavicek R. Die funktionellen Determinanten des Kauorgans. München: Zahnärztlich-Medizinisches Schrifttum, 1984.

3. Slavicek R. Das Kauorgan. Funktionen und Dysfunktionen. Kloster­neuburg: GAMMA Medizinisch-wissenschaftliche Fortbildungs-
GmbH, 2010.

4. Slavicek R. Konzepte in der Zahnmedizin, vol I: Tractatio, vol II: Documentatio, vol III: Concipio. Klosterneuburg: GAMMA Medizinisch-wissenschaftliche Fortbildungs-GmbH, 2015.

5. Türp JC. Rezension: Das Kauorgan. Funktionen und Dysfunktionen.  Quintessenz 2001;52:827–829.

6. Hugger A. Buchbesprechung: Konzepte in der Zahnmedizin, vol I: Tractatio, vol II: Concipio, vol III: Documentatio. J CranioMand Func 2016;8:351–352.

7. Türp JC. Buchbesprechung: Konzepte in der Zahnmedizin, vol I: Tractatio, vol II: Concipio, vol III: Documentatio. Dtsch Zahnärztl Z 2016;71:183­–185; reprinted as Zahnärztl Z Implantol 2016;32:236, 238­–239.

Quelle: Zeitschrift für Kraniomandibuläre Funktion 1/21 Menschen Zahnmedizin

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