Die Spitzenorganisationen der Zahnärzteschaft in Deutschland haben gestern in Berlin erstmals öffentlich die Ergebnisse des gemeinsamen Forschungsprojekts „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“ vorgestellt. Ziel dieses bundesweit einmaligen Projekts war die erste umfassende historisch-kritische Darstellung der Geschichte der Zahnärzteschaft und ihrer Organisationen in den Jahren 1933 bis 1945 sowie in der Nachkriegszeit.
Im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung im Auftrag von Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung (KZBV), Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und Deutscher Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) in Kooperation mit renommierten, unabhängigen Wissenschaftlern der Universitäten Düsseldorf und Aachen war in den vergangenen vier Jahren die Rolle der Zahnheilkunde im NS-Regime systematisch aufgearbeitet worden. Die Forschungsergebnisse beleuchten sowohl die nicht geringen Verstrickungen der Zahnärzteschaft mit dem NS-Regime als auch die vielfache Verfolgung von Zahnärztinnen und Zahnärzten aus unterschiedlichen Gründen.
Kein wirklicher Neuanfang nach dem Krieg
Der Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin und Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls der RWTH Aachen sowie erster Antragsteller und Projektleiter für den Komplex „Zahnärzte als Täter“, Prof. Dr. Dr. Dr. Dominik Groß, erklärte: „Die Zahnärzteschaft diente sich dem NS-Regime in vielerlei Hinsicht an. Im Jahr 1938 waren bereits 9 Prozent aller Zahnärzte Mitglieder der Allgemeinen SS, gut 60 Prozent der zahnärztlichen Hochschullehrer traten bis 1945 in die NSDAP ein. Mindestens 300 Zahnärzte engagierten sich in der Waffen-SS, etwa 100 Zahnärzte waren als Zahnärzte in Konzentrationslagern tätig und mindestens 48 Zahnärzte wurden ab 1945 als Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt. Nach dem Krieg kam es zu keinem wirklichen Neuanfang: So waren 6 der 7 zwischen 1949 und 1981 amtierenden Präsidenten der DGZMK ehemalige Mitglieder der NSDAP. Gleiches galt für die Hälfte der von 1949 bis 1982 ausgezeichneten Ehrenmitglieder und -medaillenträger. Dagegen gingen nur 2 Prozent dieser Ehrungen an entrechtete jüdische Kollegen.“
Mehr als 1.200 Biografien Verfolgter rekonstruiert
Der Projektleiter für den Komplex „Verfolgte Zahnärzte“, Dr. Matthis Krischel vom Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, fasste die Ergebnisse seiner Gruppe wie folgt zusammen: „Zu den Verfolgten im Nationalsozialismus gehörten auch Zahnärztinnen und Zahnärzte, Dentistinnen und Dentisten, Studierende der Zahnmedizin und andere Personen, die in Praxen und Dentallaboren arbeiteten. Im Rahmen des Projekts konnten Biographien von mehr als 1.200 Personen rekonstruiert werden. Die überwiegende Mehrheit wurde auf Grund ihrer jüdischen Religion oder Abstammung verfolgt, einige auch wegen politischer Opposition gegen die Nationalsozialisten, wegen aktiven Widerstands oder wegen ihrer sexuellen Orientierung. Dass unter den Opfern auch ein Zeuge Jehovas und eine ermordete psychisch erkrankte Zahnärztin waren zeigt, aus welchen unterschiedlichen Gründen Menschen in das Fadenkreuz der Nationalsozialisten geraten konnten.“
Und weiter stellte Krischel heraus: „Mehr als 60 Prozent der verfolgten Personen konnte aus Deutschland fliehen. Diese Flucht führte häufig über mehrere Etappen, und im Zielland konnten viele nicht mehr in ihrem ursprünglichen Beruf arbeiten. Wer das Land vor dem Krieg nicht verlassen hatte, war bald von Deportation in Ghettos, Konzentrations- und Vernichtungslager bedroht. Einige wählten den selbstbestimmten Suizid, um der Deportation zu entgehen. Fast ein Viertel der Zahnbehandler und -behandlerinnen wurde deportiert und in den Lagern ermordet. Nur eine Minderheit überlebte entweder die KZs oder konnte in Deutschland untertauchen.“
Lehren für heutige Entwicklungen ziehen
Dr. Wolfgang Eßer, Vorstandsvorsitzender der KZBV, lenkte den Blick auch auf Verantwortung und Konsequenzen für die Zahnärzteschaft heute: „Der Gedanke an die politische Verstrickung des Berufsstandes in der NS-Zeit ist bedrückend, er schmerzt und beschämt, ebenso wie der Gedanke an Zahnärztinnen und Zahnärzte, die Opfer der Nationalsozialisten wurden. Aber es ist ein notwendiger Schmerz, der die Erinnerung an Geschehenes wachhält. Er zwingt uns zur Auseinandersetzung, zur Selbstreflektion, er zwingt uns, lange ausgeblendete Realitäten anzuerkennen. Er zwingt uns, über Recht und Unrecht, über Menschlichkeit und Unmenschlichkeit, über Ausflucht und Verantwortung nachzudenken. Er macht uns demütig, aber auch sensibel für Fehlentwicklungen, ideologische Verirrungen und Intoleranz, welche im gesellschaftlichen Diskurs gegenwärtig wieder verstärkt konstatiert werden müssen. Ein Teil der Bevölkerung sucht nach Orientierung, ein anderer scheint geschichtsvergessen zu sein oder gar wieder empfänglich für nationalistisches Gedankengut. Wenn wir aus unserer Geschichte eine Lehre ziehen, dann diejenige, dass wir bereits den Anfängen entschieden wehren müssen und nicht erst ein bestimmtes Ausmaß von Unrecht oder politischer Eskalation abwarten dürfen.“
„Der Berufsstand in seiner Gesamtheit ist entschlossen, aktiv seinen Beitrag zu leisten, damit heute und künftig nie wieder Mitbürger stigmatisiert und marginialisiert werden – oder gar um ihr Leben fürchten müssen. Noch vor wenigen Jahren wäre es mir leichter gefallen, diesen Satz auszusprechen. Heute verbinde ich mit einer solchen Aussage tatsächlich die Sorge, dass sich derarige Dinge doch wiederholen könnten: Allein in diesem Jahr ereigneten sich in Deutschland mehrere medial diskutierte Anschläge von Rechtsextremisten und Rassisten.“ Dr. Wolfgang Eßer, KZBV
Der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst
Dr. Peter Engel, Präsident der BZÄK: „Das Forschungsprojekt ist ein Signal, dass die Zahnärzteschaft sich ihrer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist – und diese wahrnimmt. Wir wollen als Berufsgruppe verantwortungsbewusst und mit Zuversicht in die Zukunft sehen, daher haben wir auch diese Aspekte unserer Vergangenheit detailliert aufarbeiten lassen. Die Aufarbeitung hilft uns, aus der Vergangenheit zu lernen, aus ihr wichtige Lehren zu ziehen, Anzeichen für Missstände zu erkennen, kurz: unseren moralischen Kompass zu justieren und korrekt auszurichten. Das gebietet nicht zuletzt auch das zahnärztliche Ethos. Wir möchten eine ‚Kultur der Erinnerung‘.“
Hoher Anteil von belasteten Hochschullehrern
Prof. Dr. Roland Frankenberger, Präsident der DGZMK: „60 Prozent der untersuchten Hochschullehrer für Zahnmedizin waren Mitglieder der NSDAP. 50 Prozent aller von der DGZMK nach dem zweiten Weltkrieg ausgezeichneten Wissenschaftler, die altersmäßig dafür in Frage kamen, waren ebenfalls ehemalige NSDAP-Mitglieder. Das ist eine Prozentzahl, die meine Befürchtungen und Ahnungen deutlich übertrifft. Wir Zahnärzte – und allen voran die Vertreter der Wissenschaft – haben versagt: Im ‚Dritten Reich‘ durch politisch angepasstes Verhalten und in den folgenden Jahrzehnten durch Ausblenden und ein dauerhaftes Wegschauen.“
Frankenberger kündigte als Konsequenz verschiedene Maßnahmen an: „Die Aufarbeitung wird mit dem heutigen Tag nicht enden. Der heutige Tag ist vielmehr der Auftakt zu einem neuen öffentlichen Umgang der Zahnärzteschaft mit dem Thema Zahnmedizin und Nationalsozialismus." Neben der Umbenennung von Preisen, Medaillen und Institutionen, die nach neuer Erkenntnis nach Nationalsozialisten benannt sind, plant die DGZMK für 2020 im Rahmen des Deutschen Zahnärztetags einen Vortrag im Hauptprogramm zu dem Thema sowie eine Gedenkveranstaltung. Außerdem will die DGZMK einen Preis zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus etablieren, der den Namen „Hans-Türkheim-Preis“ bekommen soll.
Hintergrund der Projektarbeit
Einzelstudien und Promotionsarbeiten – zum Teil in englischer Sprache – sowie ein in Kürze erscheinendes Personenlexikon beleuchten gleichermaßen die Rolle zahnärztlicher Täter und Opfer. Gegenstand der Täter-Forschung waren insbesondere Präsidenten und Ehrenmitglieder zahnärztlicher Fachgesellschaften, die Affinität zahnärztlicher Hochschullehrer und Standespolitiker zur NSDAP sowie die Rolle der Zahnärzte als Angehörige der Waffen-SS, als Personal in Konzentrationslagern und – nach 1945 – als Angeklagte vor Gericht. Zudem wurden in einem eigenen Arm des Forschungsprojekts Biographien von verfolgten Zahnärztinnen und Zahnärzten nachgezeichnet. Dokumentiert sind zum Teil erhebliche Verstrickungen von Zahnärzten, Kieferchirurgen und Standespolitikern in das verbrecherische System des Nationalsozialismus. Gleichzeitig wurden besonders jüdische Zahnärzte mit Berufseinschränkungen oder -verboten belegt, enteignet, entrechtet, vertrieben und ermordet.
Weitere Informationen zu den Ergebnissen des gemeinsamen Projekts können auf den Websites von KZBV, BZÄK und DGZMK abgerufen werden, darunter Kurzdossiers zu Schwerpunktthemen der Forschungsarbeit.