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Das Dilemma mit der Arzneimittelknappheit – Dr. Uwe Axel Richter blickt auf Notstand und untaugliche Lösungen

Immer öfter können die hochmodernen Roboter-Lagersysteme in Apotheken das gewünschte Medikament nicht ausgeben, weil es nicht lieferbar ist.

(c) Halawi/Shutterstock.com

Auch wenn es sich (noch) nicht so anfühlt – aber wir leben derzeit am Vorabend einer Revolution. Zumindest im Gesundheitswesen. Denn es ist nur wenige Wochen her, dass der Bundesgesundheitsminister ebenjene angekündigt hat.

Für Prof. Dr. Karl Lauterbach als revolutionärer Neugestalter des „Systems“ wäre es mehr als nur die Kirsche auf seinem politischen Lebenswerk steter mehr oder minder erfolgreicher „Revolutionen“. Sie begannen dereinst vor über 20 Jahren mit den Krankenhaus-DRGs (sic!). Die Folgen sind hinlänglich bekannt.

„Revolution“ noch im Jahr 2023

Die neuen Zeiten, mit denen auch die neue Ökonomie (was immer das sein soll) des studierten Gesundheitsökonomen Lauterbach Einzug halten wird, sollen gemäß den Planungen aus dem Bundesgesundheitsministerium nach einem geradezu bespiellosen Gesetzesfeuerwerk noch in diesem Jahr anbrechen. Ja, wir reden tatsächlich über das bundesdeutsche Gesundheitswesen und das Jahr 2023!

Generische Arzneimittel werden knapp, knapper, am knappsten

Doch bevor das große jenseitige Revolutionsgesetzesfeuerwerk starten kann, muss sich die ministeriale Gesundheitsbürokratie in Berlin mit den ganz normalen diesseitigen Problemen herumschlagen, für die unter anderem der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn im Zuge der Coronakrise bereits Lösungen versprach. Die Rede ist von den zunehmenden Lieferschwierigkeiten für (Standard-)Arzneimittel. Wobei Lieferschwierigkeiten die freundliche Formulierung ist, Lieferausfälle die treffendere. Und damit stecken wir mitten in einer Problemkonstellation, die es vor der Coronakrise nur in homöopathischen Dosen gab.

Ein neues Zack-Zack-Gesetz soll es richten

Als Lauterbach im vergangenen Jahr aufgrund der nicht mehr wegzudiskutierenden Versorgungsprobleme davon ausging, mit einem entsprechenden Gesetz eine Zack-Zack-Lösung präsentieren zu können, unterschätzte er mal wieder – obwohl er in den vergangenen 25 Jahre immer dabei gewesen ist – den überaus dicht gewebten Regelungsteppich, insbesondere im Arzneimittelbereich. Dieser kennt, da in guten Versorgungszeiten mit dem Ziel maximaler Kostenreduktion maximal engmaschig geknüpft, das Problem in großem Umfang nicht lieferbarer Arzneimittel oder gar gerissener Lieferketten nämlich nicht. Und ermöglicht demzufolge keine Ausnahme bei den rigiden und nur mit entsprechenden Algorithmen zu bewältigenden Vorgaben.

Keine schnelle Lösung für ein zwei Jahre dauerndes Problem in Sicht

Zur Lösung der vor allem für Patienten und damit auch der Politik misslichen Lage liegt seit zwei Wochen das Ergebnis des ministerialen Schaffens aus dem BMG als Referentenentwurf vor. Das Opus legis hört auf den Namen „Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz“, kurz ALBVVG. Die Verbändeanhörung läuft bereits, am 27. März 2023 soll sich das Bundeskabinett erstmals mit dem Entwurf befassen. Noch vor der Sommerpause soll dieser verabschiedet werden – was ein weiteres Vierteljahr ins Land ziehen lassen würde. Nur zur Erinnerung: Die destabilisierte Versorgung existiert bereits seit mehr als zwei Jahren …

Zahnärzteschaft am wenigsten betroffen

Nun hat die Zahnärzteschaft – und das ist die positive Nachricht in diesem Kontext – auf der Seite der Heilberufler am wenigsten häufig mit der Nichtverfügbarkeit von Arzneimittel zu kämpfen (hier mehren sich eher die Probleme mit Produkten, die „dank“ neuer MDR von Unternehmen vom Markt genommen werden). Das liegt nicht nur am geringen Verschreibungsvolumen, sondern hauptsächlich am schmalen Verschreibungsspektrum, welches in der Natur der Sache liegend im Vergleich zum Beispiel zu Hausärzten relativ gute Ausweichmöglichkeiten auf Wirkstoff- und Präparate-Ebene ermöglicht. (Auch wenn es beim beliebten Amoxicillin ebenfalls Probleme mit der Verfügbarkeit gibt.)

Chaos in der Apotheke

Soweit die Theorie wie auch die Hoffnung. Denn in Deutschland ist die zentrale Stelle der Medikamentenausgabe auf Bezugsschein, vulgo Rezept, die Apotheke. Und hier manifestiert sich bei mangelnder Verfügbarkeit am Tresen, vor dem der Patient wartet, eine Problemquadriga – bestehend aus Patienten, Krankenkassen, Pharmaherstellern und Großhandel sowie den Verschreibenden. In Zeiten von Rabattverträgen, Festbetragsgruppen, aut idem, zweckmäßigen Vergleichstherapien und permanent drohender Retaxgefahr (Nichterstattung des abgegebenen(!) Arzneimittels mangels Regelkonformität) lassen sich nicht lieferbare Arzneimittel auch bei Wirkstoffgleichheit eben nicht mal eben so austauschen. Man stelle sich nur einmal das „Chaos“ vor, wenn aus der ärztlicherseits dem Patienten erklärten zweimal täglichen Einnahme jeweils einer Tablette derer vier werden.

Welche Dimension sich hier aufbaut, machen bereits zwei Zahlen deutlich. Allein die Anzahl der im Jahr 2020 bundesweit abgesetzten Generikapackungen betrug rund 860 Millionen, bei, so die KBV, 553 Millionen Behandlungsfällen in den Praxen. Und da ist die mit dem Alter zunehmende Multimedikation noch nicht einmal einbezogen.

Gute Rabattverträge – für die Kassen

Hinzu kommen die unter finanziellen Aspekten für die Krankenkassen enorm wirksamen Rabattverträge. Für diese schreibt jede Krankenkasse generische Wirkstoffe für einen bestimmten Zeitraum von zumeist zwei Jahren in Losen aus, auf die pharmazeutische Unternehmen bieten. Manche Kassen schließen für jeweils einen Wirkstoff nur mit einem, manche mit drei Anbietern Verträge ab. Je nach Kassenart gelten die Verträge bundesweit oder wie bei den AOKen regional. Damit bestimmt die Kassenzugehörigkeit eines Patienten die zwingende Auswahl der Majorität der Präparate (und eben nicht der Wirkstoffe). Austausch ist da nicht vorgesehen, schließlich gibt es eine Vertragsbeziehung zwischen Krankenkasse und pharmazeutischem Hersteller.

Böse Rabattverträge – für die Versorgungssicherheit

Gemeinhin gelten die Rabattverträge als eine der wesentlichen Ursachen der Lieferengpässe. Führt doch deren Systematik hinsichtlich der von den pharmazeutischen Herstellern erzielbaren Preise nicht nur zu einem Kellertreppeneffekt, sondern aufgrund der für den Vertragszeitraum fixierten Preisen zu fehlenden Reaktionsmöglichkeiten auf Kostensteigerungen. Im industriellen Ergebnis konzentriert sich somit die Produktion vieler Wirkstoffe weltweit nur noch auf wenige oder einen einzigen Hersteller, als Folge der Globalisierung vornehmlich lokalisiert in Indien, China und anderen asiatischen Ländern. Kommen neben fehlendem Ausgangsmaterial und technischen Schwierigkeiten (so etwas soll es im wirklichen Leben tatsächlich geben) noch Logistikprobleme hinzu – wie das seit der Coronakrise bekannte Reißen von Lieferketten –, ist in deutschen Apotheken schneller Ebbe, als man sich vorstellen mag.

Bei mehr als 400 Arzneimitteln Lieferengpässe

Gemäß einer Meldung von Statista vom 20. Februar dieses Jahres gibt es laut Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Deutschland bei 426 Arzneimitteln gemeldete Lieferengpässe. Zu den wichtigsten Gründen gehören die erhöhte Nachfrage, unzureichende Produktionskapazitäten und Probleme bei der Herstellung. Insbesondere im Bereich der Kinderarzneimittel herrsche zuletzt Knappheit. Medikamente mit den Wirkstoffen Paracetamol und Ibuprofen sind vielerorts nicht zu bekommen. Auch bei Krebsmedikamenten kommen vermehrt Lieferengpässe vor.

Die Lösung: 50 Cent?!

An dieser Stelle beginnt nun der K(r)ampf eines Berufsstands mit dem überbordenden Regelwerk und den unterschiedlichsten Shareholdern im Gesundheitssystem. Nicht nur, dass die erleichterten Austauschregeln im Zuge der SARS-CoV-2 Arzneimittelversorgungsverordnung (AMVV) am Karfreitag auslaufen. Jetzt stellt sich auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung gegen die den Apothekern geforderten erweiterten Austauschregeln. Durchaus nachvollziehbar, denn für die Therapie ist nun mal der Verordner verantwortlich. Und der Compliance sind Änderungen bei den Arzneimitteln nicht förderlich.

Ob es aber hilft, wenn die Apotheker jede Änderung vorab mit dem Verordner besprechen sollen? Wer die zeitliche Taktung in den bundesdeutschen Arzt- und Zahnarztpraxen kennt, den überkommen erhebliche Zweifel an der Praktikabilität, wenn man sich die dadurch verursachten Stockungen im Praxisablauf vorstellt. Da muten die 50 Cent, die die Politik den Apothekern für den Mehraufwand erstatten will, wie ein Scherz an.

ALBVVG gestattet nur wenig Ausnahmen

Die Problemlösung, die das ALBVVG offeriert, hat nun gar nichts revolutionäres an sich. Nach dem Motto „Wasch mich, aber mach mich nicht nass“ versucht die ministeriale Gesundheitsbürokratie das Globalproblem zu lösen, indem so viele der „schönen“ bestehenden Regelungen wie möglich erhalten bleiben. Moment – sollen die nicht ursächlich für die Bredouille sein?

Trotzdem sollen nur im Bereich der Kinder- und Krebsmedikamente und der Antibiotika Ausnahmen geschaffen werden, um die „Versorgung verlässlich zu sichern“. Das ist rein zufällig genau der Bereich, der in der Öffentlichkeit am „wirksamsten“ ist. Das hat aber mit der Grundversorgung nicht viel zu tun. Zu Recht fragt sich der Verband der Generikahersteller: „Wie erklärt die Politik einer Diabetespatientin, dass ihre Versorgung weniger verlässlich sein muss als die eines Anderen?“

Fehlende auskömmliche Finanzierung der Generika

Dem grundlegenden Problem einer fehlenden auskömmlichen Finanzierung generischer Arzneimittel rückt man politisch so natürlich nicht zu Leibe. Und es verbessert weder die Lage der Apotheken noch der Patienten, die mit den Lieferdefekten irgendwie klarkommen müssen.

Der Zauberlehrling als mahnendes Beispiel

Genau das ist aber die Mixtur, aus der sich Revolutionen zusammenbrauen: Patienten, Apotheken, Krankenkassen, Ärzte, Zahnärzte und Pharmaindustrie – alle betroffen, aber keine Lösung von denen, die im Wesentlichen verantwortlich sind für die Misere. All das erinnert doch sehr an Johann Wolfgang Goethes Ballade vom Zauberlehrling. Dumm nur, dass zur Rettung des vom Zauberlehrlings verursachten Desasters hier im Gegensatz zu Goethes Ballade kein Meister in Sicht ist.

Oder andersherum: Wie will Lauterbach das Grundproblem einer auskömmlichen Finanzierung des Gesundheitswesens in den Griff bekommen, wenn die Einnahmen bestenfalls stagnieren und er den unlimitierten Leistungsanspruch nicht deckelt, zum Beispiel mit dem von Prof. Raffelhüschen ins Gespräch gebrachten Selbstbehalt? Vom Finanzminister wird er keine Hilfe erwarten können, der kämpft bereits mit einer Vervierzigfachung des Schuldendienstes des Bundes.

Da diese Kolumne mit einem Bibelzitat gestartet ist, soll sie auch so enden: „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht.“ Deshalb brauchen wir für den Erhalt des Gesundheitswesens in der Tat eine Revolution. Aber eine erfolgreiche. Die gab es im Gesundheitswesen tatsächlich schon einmal. Nennt sich Festbetragsregelung.

Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf


Foto: Verena Galias
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.

Quelle: Quintessence News Politik Wirtschaft

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