Willkommen im neuen Jahr! Es ist zwar erst 13 Tage alt, fühlt sich aber bereits wieder ganz wie das Vergangene an. Schließlich setzt sich der alltägliche und politische „Wahnsinn“ unverändert fort. Und dieses Jahr auch noch gesteigert, schließlich soll am 23. Februar die vorgezogene Wahl zum 21. Deutschen Bundestag stattfinden. Kein Wunder, wenn gute Vorsätze schneller dem Vergessen anheimfallen, als einem lieb sein kann.
Falls sich ein Teil der Neujahrsvorsätze bereits wieder verflüchtigt haben sollte, möchte ich einen Vorsatz für 2025 ergänzen: Mehr Gemeinsinn leben! Man könnte es auch den gesunden Menschenverstand, gemeinhin den sensus communis, nennen. Was jedoch auch nicht besser klingt als ein frommer Wunsch.
Gemeinsinn als Basis der Politik rückt aus dem Blick
Der Gemeinsinn, der bekanntermaßen die Basis für die Politik, aber auch für das von den Selbstverwaltungen immer gerne beschworene Gemeinwohl ist, hat es nicht nur angesichts der in den vergangenen Jahren entstandenen gesellschaftlichen Gräben in diesem Land besonders schwer. Leider gilt das auch für die Share- und Stakeholder im Gesundheitswesen (denen der Fokus auf den eigenen Bauchnabel oft die ganze Welt ist), die in der Vergangenheit diesbezüglich recht fleißig agi(ti)ert haben. Dazu betrachte man nur das Verhältnis der diesbezüglichen Verbalisierungen von Krankenkassen zu Leistungserbringern und umgekehrt am Beispiel des unsäglichen Gezänks um die Entbudgetierung bestimmter ärztlicher Leistungen.
Tiefe Gräben und wenig Spielraum
Allen voran der Altmeister für tiefe politische Gräben, Noch-Gesundheitsminister Karl Lauterbach, der mehrfach in der dreijährigen Legislatur der Ampel-Regierung in die selbst geschaufelten Gräben hineinfiel und dabei seinen politischen Gestaltungsraum zeitlich und inhaltlich massiv einschränkte. Doch auch hier ist es wie immer: Er selbst ist von sich und seinem Wirken restlos überzeugt und bereits intensiv mit Geschichtsklitterung beschäftigt. Die Probleme bleiben bei den Nachfolgern hängen. Und die haben es in sich: Von der im Ergebnis missratenen Krankenhausreform über die Notfallreform bis hin zur Neugestaltung einer verzahnten ambulanten und stationären Versorgung bei gleichzeitig enger werdendem finanziellem Spielraum. Sollte sich die wirtschaftliche Entwicklung weiterhin seitwärts in einem Rezessionsszenario bewegen, wird der zukünftige Gestaltungsspielraum nahe Null sein. Insbesondere dann, wenn die Politik weiterhin neben den großen Vorgaben – mit uns keine Leistungseinschränkungen – bis hinunter in die Detailregelungen mitmischt.
AOK will weniger Eingriffe der Politik
Ein Vorgehen, welches mittlerweile auch deutlich von den Krankenkassen kritisiert wird. So fordert der AOK Bundesverband mit seinen Anfang des Jahres vorgestellten AOK-Positionen zur Gesundheitspolitik nach der Bundestagswahl 2025 unter der vielsagenden Überschrift „Wie unser Gesundheitswesen besser wird – aber nicht teurer“: „Die gemeinsame Selbstverwaltung soll wieder vollständig über den Leistungskatalog sowie die Qualitäts- und Strukturanforderungen im Gesundheitswesen entscheiden können. Darüber hinaus muss die paritätische Selbstverwaltung durch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände im Grundgesetz verankert und ihre vollständige Haushalts- und Beitragssatzautonomie wiederhergestellt werden. Durch Klagerechte soll sie sich zudem künftig gegen unberechtigte Eingriffe wehren können“. Eine Forderung, die auch die an der gemeinsamen Selbstverwaltung Beteiligten unterschreiben würden.
Was selbstverständlich sein sollte, aber immer schwieriger wird
Umso wichtiger ist es dann, sich an den Gemeinsinn zu erinnern. Um diesen etwas fassbarer zu machen, sei hier eine Beschreibung des renommierten Psychologen und Wissenschaftler Gerd Gigerenzer zitiert. Demnach machen vier Grundfähigkeiten den Gemeinsinn aus. Zitiert nach Wikipedia sind das: „kausales Denken, das heißt die Struktur von Ursache und Wirkung in der Welt zu verstehen; intuitive Psychologie, zum Beispiel die Absichten und Überzeugungen anderer Menschen zu verstehen; intuitive Physik, zum Beispiel die Eigenschaften von Zeit und Raum zu verstehen, und das intuitive Sozialverhalten wie zum Beispiel Kooperation, Konkurrenz, soziale Normen und Ethik“.
Die eigene Blase als Realitätsmaßstab
Das ist mithin auch die Basis für den sogenannten Realitätssinn. Nimmt man die vorgenannte Definition als rudimentären Maßstab und legt diesen an die sogenannten politischen Eliten dieses Landes an, bleibt als Schlussfolgerung, dass der Sinn für die Realitäten in der von den Parteien dominierten Bundes- und Landespolitik bis hinunter auf die kommunalpolitische Ebene in den vergangenen Jahren weitestgehend verloren gegangen ist. Es empfiehlt sich, hierzu einen Blick in das 1983 erschienene Buch „Die deutsche Geschichte geht weiter“ des späteren Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker zu werfen. 40 Jahre später sind die Folgen und Konsequenzen seiner damaligen These, dass sich die Parteien den Staat zur Beute machen, unübersehbar. Aus der These wurde eine Diagnose. Seine These darf mittlerweile als x-fach bestätigt angesehen werden. Mir läuft es jedenfalls kalt den Rücken herunter, wenn ich die heutigen Politiker „von unserer Demokratie“ schwadronieren höre.
Parteien ist der Gemeinsinn abhandengekommen
Warum ich das erwähne? Weil den derzeitigen Parteien im Bundestag offensichtlich der Gemeinsinn abhandengekommen ist, da sie wider bessere Erkenntnis (oder doch nur Lippenbekenntnis?) nicht willens sind, dringend notwendige Entscheidungen für das Gesundheitswesen zu treffen. Eines der drängendsten Probleme im Gesundheitswesen ist derzeit die halbgare Lauterbach‘sche Krankenhausreform, die zudem ohne gleichzeitige Notfallreform zum Scheitern verurteilt ist. Und da geht es nicht nur um die vom Gesetzgeber geforderten Strukturveränderungen und desaströsen Krankenhausfinanzen, sondern um die daraus resultierenden Konsequenzen für die Patienten. Nur zur Erinnerung: Das sind die Menschen, um die sich angeblich alles dreht. Menschen, Patienten, Kranken-Versicherte. Kurz, ohne Notfallreform kann die Krankenhausreform nicht funktionieren.
Es wäre für die sich demokratisch gerierenden Parteien auch nach dem Bruch der Ampelkoalition ein leichtes gewesen, diese (seit Jahren) zwingend notwendige Reform auf den Weg zu bringen. SPD und CDU als mögliche Koalitionspartner machen gemeinsame Schritte, um ein drängendes Problem anzugehen. Schließlich liegt ein „brauchbarer“ Gesetzesentwurf vor, die Gesundheitsexperten der Parteien waren alle involviert und demnach sachkundig. Doch was passiert? Partei„blasen“logik geht vor politische und wirtschaftliche Vernunft. Der Mensch im Mittelpunkt? Ach was!
80 Prozent der Krankenhäuser machen Verluste
Und das, obwohl alle um das Problem der verlorenen Zeit beim Umbau und Aufbau notwendiger Strukturen im Gesundheitswesen wissen. Ganz abgesehen davon, dass sich der finanziell schwierige Zustand der Mehrzahl der Kliniken langsam, aber sicher zu einem Desaster auswächst. Die neuesten Zahlen des aktuellen Krankenhaus-Barometers des Deutschen Krankenhausinstituts (DKI), kurz vor Neujahr veröffentlicht, machen dies erneut deutlich: „Die wirtschaftliche Situation der Krankenhäuser in Deutschland ist so dramatisch wie noch nie. Seit Einführung des Fallpauschalensystems im Jahr 2003 haben noch nie so viele Krankenhäuser Verluste verzeichnet wie im Jahr 2023 (61 Prozent der Häuser) und eine so schlechte wirtschaftliche Lage beklagt wie 2024. Der Anteil der Kliniken mit unbefriedigender wirtschaftlicher Lage erreicht in diesem Jahr einen Höchststand von 80 Prozent, und der Anteil der Häuser in guter wirtschaftlicher Lage mit 5 Prozent einen absoluten Tiefststand. Für das Jahr 2024 gehen 79 Prozent der Krankenhäuser von einem negativen Jahresergebnis aus. Zwei Drittel der Häuser erwarten für 2025, dass sich ihre wirtschaftliche Situation weiter verschlechtert“.
Kein Krug hält ewig: die Last der Niedergelassenen
An diesem Punkt sind die Niedergelassenen noch nicht angekommen. Doch sie befinden sich, zumindest nach Einschätzung vieler „Leistungserbringer“, ebenfalls auf dem Weg dorthin. Mit einem fundamentalen Unterschied: Jede Praxis ist ein kleines Unternehmen, bei dem der Inhaber wesentlich schneller entscheiden kann, wann es reicht. Die Selbstverwaltungen haben an dieser Stelle keine Einflussmöglichkeiten. Kommt beispielsweise die Entbudgetierung insbesondere bei den Hausärzten nicht – und fällt damit die „letzte“ Hoffnung auf eine faire Bezahlung (für erbrachte Leistungen nicht bezahlt zu werden, ist immer unfair), wäre das Ansteigen der Ausstiege aus dem Vertragsarztsystem nicht verwunderlich. Alles nur eine Frage der Höhe des Fremdkapitals.
Nimmt man die Äußerungen der gesetzlichen Krankenkassen für bare Münze, so sucht man den Realitätssinn auch bei den Spitzenverbänden der Krankenkassen vergebens. Einigen scheint im täglichen Kampf um die politische Poleposition der Norden ihres gesundheits-/versorgungspolitischen und ethischen Kompasses verloren gegangen zu sein. Auf die Idee zu kommen, dass die Versorgung verbessert würde, in dem man die Hoheit der Praxisinhaber über den eigenen Terminkalender infrage stellt – immerhin Freiberufler und Unternehmer in einer Person –, ist naiv und an Fehleinschätzung der sich negativ entwickelnden Versorgungslage kaum zu überbieten.
Agitation ist das Gegenteil von Gemeinsinn
Vor allem dann, wenn man die Debatte über die Wartezeiten für Arzttermine mit einer angeblich schnelleren Terminvergabe für Privatpatienten verknüpft, frei nach dem Motto: Die Reichen bekommen sofort Termine. Belege für diese Behauptung werden natürlich nicht vorgelegt. Insbesondere für Zahnarztpraxen geht die angebliche Bevorzugung von Privatpatienten an den abrechnungstechnischen Realitäten vorbei. Aber es passt halt gut in die Agitation auch einiger Parteien, dass mit einer Bürgerversicherung alles besser und gerechter werden würde. (Was aber selbst der Chef der größten Kasse, Jens Baas von der TK, nicht so sieht. Der sagte im Interview mit der SZ: Das Konzept tue so, „als wäre die Gesetzliche Krankenversicherung in jedem Punkt gut und als wären alle Probleme gelöst, wenn es nur die Privaten nicht gäbe. Das halte ich für falsch.“)
Weniger Verschwendung, mehr Effizienz, weniger Staatsmedizin
Für die Selbstverwaltungen der Ärzte und Zahnärzte ist die Termindiskussion hochbrisant. Nicht nur, weil der emotionale Sprengstoff erheblich ist, sondern das Thema, da öffentlichkeitswirksam, nicht ausgesessen werden kann. Dass die gesetzlichen Kassen hier nicht locker lassen werden, wurde erst vor wenigen Tagen bei der Pressekonferenz des AOK-Bundesverbands deutlich, bei dem dieser die AOK-Positionen zur Gesundheitspolitik nach der Bundestagswahl 2025 präsentierte. Die wesentliche Aussage fand sich bereits in der Überschrift: „Wie unser Gesundheitswesen besser wird – aber nicht teurer“.
Für die Versicherten forderte der Vorstand „erlebbare Versorgungsverbesserungen“. Schließlich habe „die Solidargemeinschaft einen Anspruch auf mehr Gegenleistungen für ihre hohen Beiträge“, so die Vorsitzende des AOK Bundesverbandes Dr. Carola Reimann. Eine nachvollziehbare Forderung, sofern man die Ursache nicht nennen, aber mit der Wirkung Kostendämpfungspolitik betreiben will.
Ein schneller Arzttermin ist wichtiger als die freie Arztwahl
Und Reimann legte nach: Gemäß der von der AOK in Auftrag gegebenen Forsa-Umfrage antworteten 53 Prozent der Befragten, dass ihnen ein schneller Arzttermin wichtiger als die freie Arztwahl sei. Schlussfolgerung: „Der hausärztliche Versorgungsauftrag muss zu einer patientenorientierten, niedrigschwelligen, gesamtheitlichen und kontinuierlichen Primärversorgung weiterentwickelt werden. Damit werden die Abläufe für Patientinnen und Patienten verlässlicher, weniger komplex, ein bedarfsgerechter Zugang auch zur fachärztlichen Versorgung gewährleistet und damit die Effizienz in der Versorgung gewährleistet“. Sollte der Zug tatsächlich in diese Richtung fahren, war es das mit der (zahn)-ärztlichen Positionierung zu einer freien Arztwahl.
Und doch findet sich auch Realitätssinn in den Positionen der AOK-Gemeinschaft. Diese will weniger Staatsmedizin, weniger staatliches Mikromanagement und zentrale Vorgaben. Stattdessen soll die gemeinsame Selbstverwaltung wieder vollständig über den Leistungskatalog sowie die Qualitäts- und Strukturanforderungen im Gesundheitswesen entscheiden können. Es sei die Frage gestellt, wie man all diese Ziele ohne weitgehenden Konsens mit den Versorgungspartnern erreichen will. Deren Interessen, Sorgen und Nöte kamen in den Statements des AOK-Bundesverbands gar nicht vor – was letztlich auch eine Botschaft ist.
Präventive Leistung der Zahnmedizin
Apropos Realitätssinn. Interessant ist, dass die Zahnmedizin bei den Ausführungen des AOK-Bundesverbands überhaupt kein Thema war. Vielleicht lag es daran, dass die Agenda Mundgesundheit für die 21. Wahlperiode der KZBV am gleichen Tag veröffentlicht wurde. Oder aber daran, dass die Zahnmedizin dass seit Jahren eigeninitiativ umsetzt, was angesichts der wirtschaftlichen Lage das Gebot der Stunde ist: Präventiv ausgerichtete Versorgungskonzepte umsetzen, die (Mund)-Gesundheitsverbesserung nachhaltig verbessern und Kosten sparen. Trotz vielfältiger Innovationen sank der Kostenanateil der Zahnmedizin an den GKV-Gesamtkosten in den letzten Jahren um mehr als 30 Prozent – trotz älter werdender Bevölkerung. Wobei nachhaltig auch so verstanden werden kann, dass die präventive Leistung der deutschen Zahnmedizin seitens der Kassen mittlerweile als selbstverständlich hingenommen wird.
Umfassende Public-Health-Strategie
Dennoch stellt die AOK die Forderung nach einer „umfassenden Public-Health-Strategie“ auf, „um die Gesunderhaltung der Bevölkerung, auch mit Blick auf die Pflegepolitik, zu verbessern. Prävention darf nicht auf Vorbeuge-Medizin und auch nicht auf einzelne Politikbereiche (wie zum Beispiel eines der Lauterbach‘schen Lieblingsgesetze, das „Gesundes Herz Gesetz“ samt fragwürdiger Statin-Therapie, Anm. d. Autors) beschränkt werden. Ein besonderer Fokus muss zudem auf Maßnahmen liegen, die die Pflegebedürftigkeit vermeiden, verzögern oder abmildern.“
Immerhin scheint hier so etwas wie ein Problembewusstsein zu wachsen. Was davon dann in der Politik ankommt? Dazu sollten die Spitzenorganisationen der Ärzte und Zahnärzte ebenso wie die der Kassen nicht zu viel Hoffnungen hegen – siehe oben zu Gemeinsinn und Realitätssinn. Der wird nach der Bundestagswahl nicht schlagartig bei den dann in einer Regierung sitzenden Protagonisten der Gesundheitspolitik einsetzen.
Der Gemeinsinn hat im Übrigen eine Voraussetzung: „Nur sprechenden Menschen kann geholfen werden“. Selbstgespräche sind damit nicht gemeint.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.