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Wissenschaftlicher Kongress machte fit für die heutigen und künftigen „Herausforderungen“ in der ZahnMedizin

(c) Quintessence News

Die ZahnMedizin steht in allen Bereichen vor großen Herausforderungen, nicht nur wegen der anhaltenden Corona-Pandemie. Und so widmete sich der diesjährige Wissenschaftliche Kongress des Deutschen Zahnärztetags den aktuellen und künftigen zahnmedizinischen Herausforderungen. Eine meisterten die Veranstalter direkt: Wegen der Pandemie fand der zweitägige Kongress komplett online statt – mehr als 700 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten sich angemeldet und mehr als 500 davon waren ständig über die Sessions dabei.

„Die Zahnmedizin wird sich in der kommenden Dekade mehr verändern als in den 30 Jahren zuvor. Und: Wir haben nur EINE Zahnmedizin – die Herausforderungen der Zukunft werden wir nur gemeinsam stemmen können.“ Das hatte der Präsident der DGZMK, Prof. Dr. Roland Frankenberger, zum Beginn seiner Präsidentschaft im November 2019 erklärt. Aus diesem Leitsatz seiner Präsidentschaft resultierte auch das Thema des diesjährigen Kongresses – und Frankenberger dankte Prof. Dr. Christoph Benz, Präsident der Bundeszahnärztekammer, dafür, dass er dieses Statement „Wir haben nur eine Zahnmedizin“ ebenfalls immer wieder stütze.

Benz bedankte sich in seiner Begrüßung bei den Zahnärztinnen und Zahnärzten für ihr großes Engagement und ihr perfektes Hygienemanagement in der Corona-Pandemie. Dies sei nicht nur für die Patientenversorgung, sondern ebenso für die Reputation des Berufsstands sehr wichtig und stütze auch die zahnärztliche Standespolitik dabei, die Interessen der Zahnärzte zu vertreten. Benz berichtete kurz über die Ergebnisse der Bundesversammlung der BZÄK und ermutigte die Kolleginnen und Kollegen, vor allem die neuen Möglichkeiten der PAR-Richtlinie in der Praxis intensiv zu nutzen. Das Spektrum des zahnärztlichen Behandlungsbedarfs verändere sich, die parodontalen Erkrankungen nehmen zu, so Benz. Er griff auch das Thema Telematikinfrastruktur auf, das wegen der vielen Probleme in den Praxen nur noch nerve. Der BZÄK-Vorstand schließe sich daher der von den Ärzten beim Deutschen Ärztetag Anfang der Woche erhobene Forderung nach einem Moratorium bei der TI und ausführlichen Tests neuer Anwendungen an.

Dr. Michael Frank, Präsident der Landeszahnärztekammer Hessen und Moderator der ersten Session, stellte ebenfalls das hohe Engagement der Praxisteams in der Corona-Pandemie heraus und freute sich über die hohe Zahl von Anmeldungen. „Wir hoffen, dass Sie am Samstag sagen können: Was für ein tolles Programm“, so Frank.

Was Ärzte und Zahnärzte von Dr. House lernen können

Das Programm, dass die Veranstalter – die Deutsche Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK), die Landeszahnärztekammer Hessen, die Bundeszahnärztekammer und der Quintessenz Verlag – zusammengestellt hatten, war überaus lohnend für Generalisten wie für Spezialisten. Schon die erste Session am Freitagmittag war spannend und hatte es in sich: Es ging um Medizin und ZahnMedizin. Prof. Dr. Jürgen Schäfer gab Einblicke in seine Arbeit an der Universität Marburg. Er leitet das Zentrum für unerkannte und seltene Erkrankungen (ZusE) – eine bundesweit einzigartige Institution, auch wenn inzwischen an allen Universitätskliniken Anlaufstellen oder Zentren für seltene Erkrankungen bestehen.

Prof. Dr. Jürgen Schäfer
Prof. Dr. Jürgen Schäfer
Foto: Quintessence News
Für Menschen mit seltenen Erkrankungen sind er und sein Team oft die letzte Hoffnung, um Klarheit über ihr Krankheitsbild zu bekommen und im besten Fall auch eine Therapie zu erhalten. Die rasante Weiterentwicklung in der mikrobiologischen Diagnostik und Genetik, in der Bildgebung ebenso wie in der Datenverarbeitung und der Datenbanken, helfen auch den Ärzten und Zahnärzten, schneller an Informationen zu kommen und Patienten mit seltenen Erkrankungen und zunächst unerklärlichen Krankheitsbildern helfen zu können. Aber es komme nach wie vor darauf an, auf möglichst viele Aspekte nicht nur der Krankengeschichte, sondern auch des Lebensumfelds der Patienten zu achten, wie er an verschiedenen Beispielen wie einer Kobaltvergiftung durch Abrieb eines Hüftgelenkimplantats oder eines Patienten mit einer über das Hobby Aquaristik erworbenen Bilharziose zeigte. Auch wenn die Bezeichnung als „German Dr. House“ auf ihn und seine Arbeit so nicht zutreffe, von den Themen und der Arbeit des Fernsehserien-Doktors könne man aber durchaus lernen, wie Schäfer an Einspielern aus der Serie zeigte – und wie er es in einem preisgekrönten Lehrprojekt für Mediziner schon umgesetzt hatte.

Früherkennung auch ein Thema für den Zahnarzt

Etwa 500 der rund 8.000 bekannten seltenen Erkrankungen manifestieren sich im Mundbereich – und das oft schon im Kindesalter, da gut 80 Prozent der seltenen Erkrankungen genetisch bedingt sind. Zahnärztinnen und Zahnärzten komme daher ein wichtiger Part beim Erkennen dieser Erkrankungen zu, so Schäfer, denn allein in Deutschland sind rund vier Millionen Menschen davon betroffen – und zum Zahnarzt gehe nun fast jeder. Schäfer nannte als Beispiele die Hypophosphatämie („Phosphatdiabetes“), die sich oft durch Zysten ohne Kariesbefall der Zähne zeige, die Hypophosphatasie, bei der ein früher Verlust der Milchzähne auftrete, das Hyper-IgE-Syndrom mit einem verzögerten Zahnwechsel und persistierenden Milchzähnen und dem Gorlin-Goltz-Syndrom, das sich unter anderem durch Zysten im Kiefer manifestiert. An der Universität Münster gibt es ein Institut für seltene Erkrankungen mit oraler Beteiligung, und Schäfer empfahl Zahnärzten die dort entwickelte ROMSE-Datenbank, die Erkrankungen mit orofazialen Manifestationen auflistet.

Moderator Dr. Michael Frank (links) und Dr. Dr. Markus Tröltzsch
Moderator Dr. Michael Frank (links) und Dr. Dr. Markus Tröltzsch
Foto: Quintessence News
Den weiteren Bogen in die zahnärztliche Praxis schlug dann Dr. Dr. Markus Tröltzsch mit seinem Vortrag „Der multimorbide Patient“. Er sensibilisierte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, nicht nur vor dem Hintergrund einer rasch alternden Bevölkerungsmehrheit aufmerksam den gesamten Patienten in den Blick zu nehmen, der in die zahnärztliche Praxis kommt. Tröltzsch fokussierte auf drei Gruppen und deren (chirurgische) Behandlungsfähigkeit und potenzielle Komplikationen: Die kardiovaskulären Erkrankungen, metabolische Erkrankungen wie Diabetes und die Gruppe mit Bisphosphonaten/Tumoren. Wichtige Grundsätze für die Therapieentscheidung seien das Wissen um die jeweils möglichen oder zu erwartenden Komplikationen wie Wundheilungsstörungen, Blutungen, Hämatome, Dehiszenzen bis hin zu allgemeinmedizinischen Notfällen, die Risikominimierung, zum Beispiel durch Anpassung der Medikation in Absprache mit den behandelnden Ärzten, durch gegebenenfalls antibiotische Abschirmung, durch Optimierung der Ausgangssituation zum Beispiel durch Mundhygieneinstruktionen und Wahl von Therapiealternativen.

Die eigenen Fähigkeiten kritisch einschätzen

Der wichtigste Faktor sei aber vor allem das realistische Einschätzen der eigenen (chirurgischen) Fähigkeiten und der in der Praxis möglichen Interventionsmöglichkeiten bei Komplikationen. Gerade bei chirurgischen Eingriffen sei es oft besser, die Patienten zu entsprechend ausgebildeten Oral- oder MKG-Chirurgen zu schicken. (Einen guten und schnellen Überblick über die medizinischen Aspekte in der Zahnmedizin bietet auch das aktuelle Fachbuch „Medizin in der täglichen zahnärztlichen Praxis“.) Maßnahmen der Geweberegeneration, Augmentation und Implantation seien bei multimorbiden und kompromittierten Patienten grundsätzlich bei Abwägung und Einhaltung der Kautelen möglich, erläuterte Tröltzsch im Vortrag und im anschließenden Gespräch mit Dr. Thomas Braun, Geschäftsführer der Geistlich Biomaterials GmbH, einem der Premium Partner des Deutschen Zahnärztetags.

Diese eigenen Beiträge der Premium Partner des Deutschen Zahnärztetags waren neu im digitalen Programm des diesjährigen Kongresses. Im „Netzwerk der Kompetenzen“ ergänzten sie das Kongressthema „Herausforderungen“ mit interessanten Vorträgen für die Praxis – von Geweberegeneration und komplexer Implantologie über Neues aus der digitalen Bildgebung bis zu verschiedenen Aspekten der Praxisführung, der Integration digitaler Verfahren und zu Patientenkommunikation, Factoring und Abrechnung.

 

 

„Was Sie leider nicht sehen, ist der Wurzelkanal“

PD Dr. Thomas Connert von der Universität Basel präsentierte den aktuellen Stand der navigierten Endodontie. Connert arbeitet an einem der ersten Zahnunfallzentren der Schweiz, die Abteilung hat aktuell mehr als 1.000 Patienten im Recall und kann also mit repräsentativen Zahlen dienen. Obliterationen der Wurzelkanäle treten oft nach Traumata auf, aber auch verschiedene Zahnbehandlungen (von KFO über Parodontitisbehandlungen, restaurative Maßnahmen) sowie der natürliche Alterungsprozess können Obliterationen auslösen. Wurzelkanalbehandlungen an Zähnen mit kalzifizierten (obliterierten) Wurzelkanälen und Parodontitis apicalis sind eine große Herausforderung sowohl für Generalisten als auch für Spezialisten. Sie gehen mit einem erhöhten Zeitaufwand und Risiko für technische Fehler wie Perforationen einher.

Connert demonstrierte den Ablauf für die navigierte statische und dynamische Endodontiebehandlung (Real Time Guided Endodontic, RTGE). Anhand einer dreidimensionalen radiologischen Bildgebung (DVT) und digitalem Intraoralscan lässt sich für derart schwierige Fälle eine schablonengeführte Technik der Wurzelkanalbehandlung („Guided Endodontics“) klinisch umsetzen. Vorteile der navigierten Endodontie sind der geringere Substanzverlust, der höhere Erfolg im Aufspüren der Kanäle und die präzise Umsetzung der geplanten Behandlung und des Ergebnisses. Bemerkenswert ist, dass die Guided Endodontie unabhängig von der Erfahrung des Behandlers gute Ergebnisse bringt. Allerdings ist das Einsatzgebiet eingeschränkt auf gerade Wurzelkanäle, das DVT bedeutet eine Strahlenbelastung für den Patienten und der hohe Platzbedarf für Schiene und Bohrer kann ebenfalls limitierend sein. Connerts Fazit: „Ich kann unerfahrene Kollegen mit dieser Technik auf das Niveau eines erfahrenen Endodontologen bringen.“

Ritt durch die Funktionsanalyse

Prof. Dr. Roland Frankenberger (oben) und PD Dr. Oliver Ahlers
Prof. Dr. Roland Frankenberger (oben) und PD Dr. Oliver Ahlers
Foto: Quintessence News
PD Dr. Oliver Ahlers führte gewohnt temporeich durch sein Thema der Funktionsdiagnostik und -therapie bei komplexen Fällen. „Das Problem ist, das die Patienten außer Schmerzen noch vieles andere mitbringen“: Von Funktionsstörungen über Bruxismus, Abnutzung, falschen Habits, Ess- und Trinkgewohnheiten bis hin zu besonderen Lebensumständen können sich hier viele Faktoren auswirken oder ausgewirkt haben – das wurde besonders deutlich bei den drei Patientenfällen, die Ahlers vorstellte – hier waren von der Familie unter Personenschutz, dem Firmengründer bis hin zur Patientin nach Phlegmon-Notfallbehandlung alles dabei. Ahlers stellte sein von ihm mit entwickeltes Diagnoseschema vor, das CMD in Myopathie, Okklusopathie und Arthropatie unterschied. Dieses Schema wurde um die Krankheitsfelder Bruxismus, Okklusale Dysästhesie (OD) und Zahnverschleiß als weitere diagnostische Möglichkeiten außer der CMD erweitert. Was man für die Diagnostik noch braucht? „Eine klare Idee, was der Patient haben könnte“, so Ahlers. Mehr zur AWMF-Leitlinie (S3), und seinem Diagnosekonzept gibt es auf seiner Homepage und bei Quintessence News.

Problematik frühkindliche Karies

Ist Karies wirklich immer noch ein Problem? Angesichts des Rückgangs und des erfreulich hohen Prozentanteils kariesfreier Kinder und Jugendlicher glaubt man es kaum noch. Prof. Katrin Bekes von der Universitätszahnklinik Wien kommt zu einem anderen Ergebnis. Sie referierte zu Epidemiologie, Risiken und Folgen der Early Childhood Caries (ECC). 2015 hatten 7,8 Prozent aller Kinder weltweit (ca. 573 Millionen) nicht behandelte Karies, in Deutschland sind 13,7 Prozent der Dreijährigen von Karies betroffen. Risiken sind zum einen Ernährungsfaktoren mit bis zu neun Stunden Nuckelflaschennutzung am Tag, zuckerhaltigen Getränken in der Flasche oder Lebensmitteln wie aktuell den Quetschies. Diese enthalten Fruchtpüree oder Joghurt-Fruchtmixe mit hohem natürlichen Zuckeranteil, suggerieren aber mit der Aussage „ohne Zuckerzusatz“, es handle sich um zuckerfreie Lebensmittel. Daneben sind mangelnde Mundhygiene, soziodemographische Faktoren wie geringe Bildung der Eltern und die geringere Mineralisierung und damit höhere Säureanfälligkeit der kleinen Milchzähne ausschlaggebend.

Prof. Dr. Roland Frankenberger und Prof. Dr. Katrin Bekes
Prof. Dr. Roland Frankenberger und Prof. Dr. Katrin Bekes
Foto: Quintessence News
Die Eltern kommen meist erst, wenn die Karies fortgeschritten ist und beginnt, massive Probleme zu machen: von Schmerzen, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen bis hin zu gestörter Kau- und Sprachfunktion, höherem Kariesrisiko der bleibenden Zähne, Etablierung schlechter Mundhygiene und Auswirkungen auf die Allgemeingesundheit. In Österreich findet der erste Zahnarztbesuch erst mit 3,7 Jahren statt – „viel zu spät!“, so Bekes. Erfreulich ist die Aufnahme der zahnärztlichen Früherkennungsuntersuchung im U-Heft in Deutschland ab dem 6. Lebensmonat. Bekes Fazit: Karies ist immer noch ein Problem – vor allem die ECC. Und hier sind vor allem die Eltern gefragt. Sie gilt es zu informieren und zu sensibilisieren: für die Wichtigkeit der Milchzähne, der Mundhygiene und der gesunden Ernährung. Die Referentin verwies auf ein gemeinsames Projekt von DGKiZ und Oral B, das mit Anamnesebogen und Handlungsempfehlungen als Grundlage für das Beratungsgespräch das Praxisteam bei der Elternberatung unterstützen kann. Abschließend beschrieb sie die neuen Fluoridempfehlungen für Kleinkinder und wie wichtig es sei, die Pädiater mit ins Boot zu holen.

Die Nekrose selbst ist nicht schmerzhaft, sondern die Entzündung!

Nach der Pause eröffnete Prof. Dr. Dr. Knut Grötz die vom President elect der DGZMK, Prof. Dr. Dr. Jörg Wiltfang, moderierte dritte Session mit seinem Beitrag zu Antiresorptiva (AR, vor allem Bisphosphonate) und ihren Auswirkungen auf zahnärztliche Therapien. Beeindruckend die zerstörerische Kraft der Nekrose, denn die befallenen, dunkel verfärbten knöchernen Gewebe sind nicht mehr zu retten. Grötz‘ Thema sprengte leider den zeitlichen Rahmen, seine Take-Home-Message: Die bestwirksame Vorbeugung vor Nekrosen ist die Prophylaxebehandlung vor der AR-Therapie, es muss die Zusammenarbeit mit Medizinern verstärkt werden, um schon im Vorfeld der AR-Therapie eine Sanierung der Mundverhältnisse beginnen zu können. Beispiel Parodontitis: Die parodontale Entzündung im Weichgewebe führt zu Resorptionen. Werden diese durch AR-Gaben gestoppt, beginnen hier die Nekrosen. Wichtig ist auch die risikoorientierte zahnmedizinisch Kontrolle von ein- bis viermal pro Jahr.

Navigierte Implantologie – mehr Präzision oder wissenschaftliche Spielerei?

Prof. Bilal Al-Nawas widmete seinen Beitrag dem aktuellen Stand der navigierten Implantologie. Großer Vorteil auch für ihn ist, dass die prothetische Versorgung in der implantologischen Versorgung in einer neuen Präzision eingeplant werden kann. „Das ändert unser Verhalten und unsere Zusammenarbeit mit jungen Kollegen“, so Al-Nawas. Denn im Workflow dieser Guided-Implantology-Systeme erhält die Kommunikation im Team und mit dem Patienten einen neuen Stellenwert. Der Referent sparte nicht mit praktischen Tipps: Eine gute Übung sei, die Software auch als Viewer zu nutzen. Bei der DVT-Aufnahme wird der Patientenbiss (wenn möglich) mit Watterollen gesperrt und auch die Wangen mit Watterollen abgehalten, um möglichst klare Daten des Kiefers zu erhalten. Wünschenswert sind Bohrschablonen aus sterilisierbaren Kunststoffen.

Interessant, wenn auch pädagogisch nicht wertvoll, kommt Al-Nawas wie auch Connert zu dem Schluss, dass bei den dynamisch geführten Systemen eine gewisse Computerspiel-Erfahrung durchaus nützlich ist, da bei der operativen Führung hier die Bohrachse mit dem Zielpunkt am Bildschirm überein zu bringen ist und sowieso während der Bohrung der Blick auf den Bildschirm gerichtet bleibt. „Für den Chirurgen ist fully guided ein Alptraum“, so Al-Nawas. Dennoch glaubt der Referent, das die Reise in Richtung navigierte Implantation gehen wird.

Orale Transition des Alterns

Mundgesundheitsprobleme bei pflegebedürftigen Menschen haben negative Folgen für Gesundheit und Wohlbefinden. Es handelt sich meist um eine schleichend zunehmende Entwicklung (orale Transition des Alterns) mit fortschreitendem Verlust der Fähigkeit, suffiziente Mundpflege zu betreiben. Mehrere Risikofaktoren tragen zusätzlich dazu bei: die zunehmende Zahl an Komorbiditäten, manuelle Einschränkungen, kognitiver Abbau, aber auch eine geringere Aufmerksamkeit für die Mundhöhle im Allgemeinen. Auch die Unterstützung durch Pflegepersonal schafft es oft nicht, diese Versorgungslücke zu schließen, so dass sich der Zustand kontinuierlich verschlechtert. Laut PD Dr. Dr. Anna Barbe müssen Verhaltensmuster zur Mundpflege noch vor Eintritt von oralen Problemen gebahnt werden und die Patienten auf die erwartbare Transition vorbereitet werden. „Da wir im Alltag sehen, dass die einmal entstandene Mundpflege-Lücke durch Menschen mit Pflegebedarf und ihr Unterstützungsumfeld allein häufig nicht adäquat substituiert werden kann und so mit lebenslanger Mundgesundheit nicht vereinbar ist, stellt sich die Frage, wie der Bedarf von Seiten der Zahnmedizin abgedeckt werden kann.“ Als Lösungsansätze aus der zahnärztlichen Praxis heraus sieht Barbe Aufklärung zur Wichtigkeit von Mundhygiene und Schulung auch von „Laienputzern“ im familiären Umfeld.

 

Die Preisträger des Miller-Preises: Dr. med. dent. Gerhard Schmalz (Leipzig) 2020 und Dr. med.dent. Ramona Schweyen (Halle) für 2021.
Die Preisträger des Miller-Preises: Dr. med. dent. Gerhard Schmalz (Leipzig) 2020 und Dr. med.dent. Ramona Schweyen (Halle) für 2021.
Foto: Heinzen/Quintessenz

 

Miller-Preis für wissenschaftliche Leistungen

Am Samstagmorgen standen zunächst Auszeichnungen auf dem Programm, denn traditionell werden auf dem Deutschen Zahnärztetag auch Preise verliehen. In diesem Jahr waren dies der Miller-Preis an Dr. Ramona Schweyen aus Halle (Saale) zur zahnärztlichen Versorgung von Tumorpatienten. Zudem wurde die Urkunde an die Miller-Preisträger des Jahres 2020 aus Leipzig, die Arbeitsgruppe Dr. med. dent. Gerhard Schmalz, Prof. Dr. med. dent. Dirk Ziebolz (Poliklinik für Zahnerhaltung und Parodontologie, Universität Leipzig), Dr. med. Christian Binner, Prof. Dr. med. Jens Garbade (Klinik für Herzchirurgie, Herzzentrum Leipzig), für ihre wichtige Arbeit „Mundgesundheit und zahnmedizinische Betreuungssituation von Patienten mit schweren Herzerkrankungen – Beschreibung einer Versorgungslücke und Konsequenzen für ein interdisziplinäres Behandlungskonzept“ übergeben.

Ebenfalls zum Deutschen Zahnärztetag, aber nicht im Live-Programm vergeben wurden der DZZ-Jahresbestpreis für zwei Veröffentlichungen, der Preis des International Poster Journals sowie die Dental-Education-Awards der Kurt-Kaltenbach-Stiftung und der von DGZMK, BZÄK und Dentsply Sirona vergebene Förderpreis. (Mehr dazu folgt in einem gesonderten Beitrag.)

Prof. Dr. Anne Wolowski neue Generalsekretärin der DGZMK

Am Vortag des Wissenschaftlichen Kongresses fand zudem traditionell die Mitgliederversammlung der DGZMK statt. Prof. Anne Wolowski aus Münster wurde als neue Generalsekretärin der DGZMK gewählt. Sie folgt Dr. Guido Wucherpfennig nach, der satzungsgemäß aus dem DGZMK-Vorstand ausscheidet. Wolowski ist Oberärztin in der Poliklinik für Zahnärztliche Prothetik und Werkstoffkunde am Universitätsklinikum Münster. Ferner wurden Dr. Jens Baresel (Cadolzburg) und Dr. Stefan Ries (Wertheim) als Beisitzer wiedergewählt.

Der menschliche Faktor

Der besondere Vortrag von Robert Schröder eröffnete den Samstagmorgen mit spannenden Denkanstößen aus der Luftfahrt. Der Umgang der agierenden Menschen miteinander ist entscheidend für Erfolg oder Misserfolg des Projekts. Die Heldenkultur der Mitte des vorigen Jahrhunderts – ausgehend von Charles Lindbergh in der Luftfahrt sehr ausgeprägt – erfuhr im März 1977 eine Zäsur, als auf Teneriffa zwei Flugzeuge im Morgennebel ineinander krachten und 589 Menschen starben. „Danach war die fliegerische Welt eine andere“, so Schröder. Das KLM-Flugzeug startete ohne Startfreigabe und stieß während des Abhebens mit der noch auf der Startbahn rollenden Pan-Am-Maschine zusammen. Zum Unfall trugen eine durch dichten Nebel beeinträchtigte Sicht sowie die unzureichende und missverständliche Kommunikation zwischen den KLM-Piloten und der Platzkontrolle im Tower bei – und: Im KLM-Cockpit saß eine „Fliegerlegende“ mit großer Erfahrung und ein Co-Pilot mit geringer Flugerfahrung. Der Co-Pilot merkte zwar an, dass die Startfreigabe fehle, die „Legende“ verwies ihn barsch, dass er die Freigabe gefälligst einholen solle. Laut Schröder ein hierarchiesicherndes Verhalten.

Seitdem basiert die Luftfahrt auf der Annahme, dass Menschen Fehler machen, und entwickelte eine Fehlerkultur mit Eckpunkten, die universell gelten: Befolgen von Regeln und Verhalten, gegenseitige Absicherung der Validität mentaler Modelle, aktive und passive Kritikfähigkeit, Transparenz eigener Pläne und Absichten, unklare Bedenken ansprechen, offene Kommunikation über hierarchische Grenzen und eine strukturierte Entscheidungsfindung. Positives Beispiel für Schröder war das als „Confidence humility“ bezeichnete Verhalten des Piloten Sullenberger bei seiner spektakulären Notlandung im Hudson 2009.

Die Versorgung tief subgingivaler Ränder – „Mission Compossible“

PD Dr. Dietmar Weng und Prof. Dr. Diana Wolff
PD Dr. Dietmar Weng und Prof. Dr. Diana Wolff
Foto: Quintessence News
Prof. Diana Wolff führte die Teilnehmer aus den luftigen Höhen „in die zahnmedizinischen Niederungen“, genauer in die tief subgingivalen Ränder und ihre restaurative Behandlung mit der Kastenelevation. Das auch als R2 bezeichnete Verfahren wurde in Heidelberg entwickelt. Als Alternative zur klassischen chirurgischen Kronenverlängerung können hier direkte subgingivale Kompositrestaurationen eingesetzt werden, die im Anforderungsprofil über eine Aufbaufüllung hinausgehen. Im subgingivalen Bereich muss das feuchtigkeitsempfindliche Kompositmaterial mit speziellen Techniken eingebracht und sorgsam verarbeitet werden.

Wichtig: bei Verletzung der biologischen Breite durch die tief subgingivale Restauration dürfen keine Irritationen hervorgerufen werden, sie könnten das umgebende parodontale Stützgewebe schädigen. Allerdings ist bei Anwendung strukturierter Behandlungsprozesse auch bei diesen komplexen und extrem ungünstigen Ausgangsbedingungen eine zuverlässige und langfristige Versorgung möglich. Wolff demonstrierte die Schneepflugtechnik als Auffüllen des Kavitätenbodens mit einer kombinierten Technik aus fließfähigem und viskösem Komposit (mehr dazu in Quintessenz Zahnmedizin, 2018(1):8-17). Das Verfahren ist technisch anspruchsvoll, von der Trockenlegung bis hin zur Ausgestaltung, ermöglicht dem Zahn jedoch eine gute Perspektive.

Disruptive Technologien und der Blick in eine verborgene Welt

Der Vormittag und der frühe Nachmittag standen dann im Zeichen neuer Technologien. Prof. Dr. Thomas Flemmig aus Hongkong stellte in seinem Vortrag den Unterschied zwischen kontinuierlichen und disruptiven Innovationen vor, die in der Regel von Entwicklern und Unternehmen außerhalb des Marktes kommen. Für die Medizin und Zahnmedizin sieht er vor allem in den Bereichen Diagnostik/Bildgebung, Robotertechnik, Software/künstliche Intelligenz, Genetik und 3-D-Druck disruptive Technologien, die die Arbeit verändern werden. Aktuell werde an vielen Orten der Welt an neuen Dingen geforscht, die das Potenzial hätten, disruptive Innovationen hervorzubringen. Allerdings brauche es dafür ein geeignetes Umfeld und vor allem Kapital.

 

 

Das Feld der Biologie, Biochemie und Mikrobiologie hatte Flemmig in seinem Vortrag nicht detailliert betrachtet. Hier setzte die nächste, in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Präsentation an. Wer sich unter dem Titel „Die Sprache der Zellen – visualisierte Biologie – ihre interzelluläre Interaktion und klinische Relevanz in der Oralen Medizin“ nicht direkt etwas vorstellen konnte, wurde von Prof. Dr. Dr. Bernd Stadlinger, Prof. Dr. Reinhard Gruber und Prof. Dr. Dr. Hendrik Terheyden in die faszinierende Welt der für die Zahnmedizin relevanten Zellen entführt. In einem in Kürze erscheinenden Buch werden diese Zellen in Beiträgen vorgestellt, die sowohl diese Zellen als auch ihre Kommunikation und die Konsequenzen daraus für die Klinik beschreiben. Und sie werden in einer einzigartigen Art und Weise visualisiert – in kolorierten, fotorealistischen 3-D-Darstellungen auf der Grundlage von REM-Aufnahmen und mit einer Augmented-Reality-App. Die Begeisterung der drei Herausgeber für diese faszinierende verborgene Welt, die bereits aufgedeckten und noch zu erforschenden Wege der Kommunikation und das daraus resultierende Verständnis der komplexen Prozesse zum Beispiel beim Knochenabbau und Knochenaufbau war ansteckend und die Relevanz dieser Erkenntnisse für den klinischen Alltag greifbar. Der Zellatlas ist ein weiterer Teil aus der Reihe „Kommunikation der Zellen“, deren aufwendige 3-D-Filme komplexe Prozesse nicht nur für Experten sichtbar machen, sondern in gesondert aufbereiteter Form auch für Patienten.

KI – ein Buzzword in die Praxis übersetzt

„Künstliche Intelligenz“ – Prof. Dr. Falk Schwendicke holte in seinem informativen und gut verständlichen Vortrag ein „Buzzword“ in die klinische Realität. Anhand einer von ihm mitentwickelten Software zur Analyse von Röntgenbildern zeigte er, was heute möglich ist und wo die Grenzen dieser Anwendungen liegen. Schwendicke machte wiederholt deutlich, dass diese KI-Anwendungen nur Assistenz sein können, die Verantwortung liege am Ende immer beim Arzt oder Zahnarzt. Was die Systeme leisten, konnten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Bildschirm mit einer kleinen Umfrage auch selbst direkt testen – es ging darum, die Zahl apikaler Prozesse oder kariöser Läsionen auf OPG-Aufnahmen zu ermitteln. Gerade bei qualitativ schlechteren Aufnahmen lag die KI vorn.

Der Vorteil der guten Systeme liege darin, dass sie heute mit hoher Sicherheit Bilddaten entsprechend vorauswerten könnten, so Schwendicke. Hier seien sie so gut wie gute und aufmerksame Kliniker. Im Alltag unterstützten sie dabei, möglichst keine Strukturen zu übersehen, und erleichterten zudem die Dokumentation gerade bei komplexen oder qualitativ nicht so gelungenen Aufnahmen. (Der angekündigte Vortrag „App oder Arzt“ von Dr. Hirsch ist entfallen, da der Referent kurzfristig absagen musste.)

Der krönende Abschluss: einflügelige Adhäsivbrücken

Ein in jeder Hinsicht krönender Abschluss waren der Vortrag und die Live-on-Tape-Präsentation von PD Dr. Nicole Passia aus Kiel zum Thema Adhäsivbrücken. Fundiert und praxisnah vermittelte sie Theorie und Studienlage zu Designs, Materialien und klinischer Bewährung ebenso wie das standardisierte klinische Vorgehen, diskutierte Indikationen und Kontraindikationen anhand klinischer Beispiele und erläuterte Fallstricke und Grenzen der Technik.

Zirkoniumdioxidkeramiken seien der Werkstoff der Wahl für einflügelige Adhäsivbrücken im Frontzahnbereich. Wichtig seien eine ausreichend große Klebefläche von dreißig Quadratmillimetern im Schmelz, mindestens 0,7 Millimeter Flügelschichtstärke und eine Verbindergröße von mindestens drei Millimetern Höhe und zwei Millimetern Breite. Hier komme es vor allem auf die Höhe an. Für die Präparation wird der zu präparierende Bereich mit Edding eingefärbt, es wird eine kleine Retentionsmulde (Noppe) präpariert, ebenso approximal ein kleiner Kasten für den Verbinder. Die Präparation sollte ausschließlich im Schmelz erfolgen. Für das Einsetzen wird in Kiel ein Schlüssel aus Pattern Resin angefertigt, mit dem die Restauration für die Abbindezeit des Adhäsivsystems stabil und ruhig in situ gehalten werden kann.

 

 

In Kiel untersuche man auch einflügelige Adhäsivbrücken im Prämolaren- und Molarenbereich, allerdings seien die Daten hier noch nicht ausreichend, um eine abschließende Beurteilung und Empfehlung abzugeben, so Passia. Grundsätzlich erhielten in Kiel alle mit einflügeligen Adhäsivbrücken versorgten Patienten Schienen für die Nacht, um negative Wirkungen von Parafunktionen auf die Restauration zu vermeiden.

DGZMK-Präsident Frankenberger schloss die beiden inhalts- und abwechslungsreichen Tage mit einem Dank an alle Referentinnen und Referenten, die Landeszahnärztekammer Hessen als Mitveranstalter, das Organisations- und Technikteam im Studio des Quintessenz Verlags in Berlin – und an die Zahnärztinnen und Zahnärzte, die so zahlreich das Angebot angenommen und auch rege Fragen gestellt hatten. Für 2022 ist „Kritisch hinterfragt“ das Oberthema des Wissenschaftlichen Kongresses, der, so Frankenberger, hoffentlich endlich wieder in Präsenz in Frankfurt stattfinden könne.

Dr. Marion Marschall, Karen Nathan, Berlin

Titelbild: DGZMK-Präsident Prof. Dr. Roland Frankenberger und BZÄK-Präsident Prof. Dr. Christoph Benz im Studio in Berlin.
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