Die orale Lebensqualität (OLQ) kann durch Zahnverlust, Erkrankungen der Zahnhartsubstanzen wie Karies oder auch durch Symptome von Erkrankungen des Zahnhalteapparats wie erhöhte Zahnbeweglichkeit beeinträchtigt sein. Das Ziel der vorliegenden Übersichtsarbeit, veröffentlicht in der Implantologie 3/19, war, den Zusammenhang zwischen parodontalen Erkrankungen, gemessen an klinischen Parametern (Sondierungstiefe und klinischer Attachmentverlust), und der OLQ systematisch zu evaluieren. Es wurden 37 Studien in die Auswertung eingeschlossen. In 28 Publikationen konnte eine Beeinträchtigung der OLQ durch Parodontitis aufgezeigt werden. Zudem zeigten acht der eingeschlossenen Studien eine stärkere negative Beeinflussung der OLQ bei zunehmenden parodontalen Symptomen. Parodontitis ist demzufolge keine stille Erkrankung, sondern eine Erkrankung, welche die Lebensqualität des Patienten negativ beeinflusst.
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Einleitung
Parodontale Erkrankungen zählen zu den häufigsten chronischen Erkrankungen weltweit2,3. Neben dem erhöhten Risiko für Zahnverlust konnte der Einfluss auf die allgemeine Gesundheit und auf Krankheitsbilder wie Diabetes mellitus sowie kardiovaskuläre und rheumatoide Erkrankungen wissenschaftlich nachgewiesen werden4–6.
Die weltweit hohe Prävalenz parodontaler Erkrankungen und Therapien bestätigt neben der klinischen Erfahrung die Annahme, dass viele betroffene Patienten oft jahrelang mit den Symptomen ihrer parodontalen Erkrankung leben. Sie wenden sich vielfach erst sehr spät an einen Behandler – meist dann, wenn es bereits zu einem weit fortgeschrittenen Verlust der parodontalen Gewebe gekommen ist sowie Zahnwanderungen und/oder einschränkende Zahnlockerungen aufgetreten sind. Der Zahnerhalt ist in einer solchen Situation eine Herausforderung. Aufgrund dieser Beobachtungen stellte sich die Frage, ob Patienten mit Parodontitis unter ihrer Erkrankung leiden oder anders formuliert, ob die Parodontitis eine „stille“ Erkrankung ist.
Das individuelle Krankheitsempfinden gewann in den vergangenen Jahren zunehmend an Bedeutung. 1946 definierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Gesundheit als „Zustand vollkommenen physischen, psychischen und seelischen Wohlbefindens und nicht allein das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen“7. Durch den Einbezug der Patientenwahrnehmung in die diagnostischen Prozesse8 erfolgte der Wandel von einem medizinischen, strikt biologischen zu einem umweltspezifischen Modell. In der Zahnmedizin können diese subjektiven funktionellen, psychologischen und sozialen Aspekte mittels standardisierter Fragebögen eruiert und als mundgesundheitsbezogene (orale) Lebensqualität (OLQ) zusammengefasst werden9. Eine Beeinträchtigung der OLQ konnte für einige orale Pathologien wie erhöhte Zahnbeweglichkeit, Karies und Zahnverlust bereits nachgewiesen werden10–13.
Ziel dieser systematischen Übersichtsarbeit war es, einen möglichen Zusammenhang zwischen den klinisch messbaren Parametern einer parodontalen Erkrankung und deren Einfluss auf die OLQ zu evaluieren1 (Abb. 1).
Literaturübersicht
Es wurde eine systematische Suche in den elektronischen Datenbanken PubMed, Embase und OpenGrey mit den Schlüsselwörtern „parodontale Erkrankungen“, „chronische und aggressive Parodontitis“, „parodontale Tasche“ und „Lebensqualität“ durchgeführt. Die Suche erfolgte ohne zeitliche oder sprachliche Begrenzung und wurde durch eine manuelle Durchsicht ergänzt. Basierend auf der Analyse der Titel und Abstracts von 1.134 identifizierten Studien wurden anschließend die Volltexte von 109 Studien ausgewertet. Eingeschlossen wurden alle Arbeiten, die eine mögliche Assoziation zwischen einer unbehandelten parodontalen Erkrankung und der Beeinträchtigung der OLQ aufzeigten. Es wurden auch Studien berücksichtigt, welche die OLQ vor einer Parodontitistherapie untersuchten. Weitere Einschlusskriterien waren das Alter der Probanden ≥ 16 Jahre, die Anwendung standardisierter und validierter Fragebögen zur OLQ- Erfassung und das Vorhandensein der klinischen parodontalen Parameter Sondierungstiefe (ST) oder klinischer Attachmentverlust (CAL). Schlussendlich konnten 37 Studien in der systematischen Übersicht berücksichtigt werden (Abb. 2).
Im Folgenden werden die Resultate anhand der PICO/PECO-Kriterien dargestellt14.
Patientencharakteristika/Population
Insgesamt wurde der Zusammenhang zwischen klinisch bestimmten parodontalen Parametern und OLQ bei 14.087 Patienten im Alter zwischen 16 und 93 Jahren untersucht (Tab. 1). In der Mehrheit der Studien wurden sowohl weibliche als auch männliche Probanden analysiert. Etwa die Hälfte der Untersuchungen widmete sich einer spezifischen Populationsgruppe hinsichtlich allgemeinmedizinischer Faktoren (beispielsweise Schwangerschaft, Diabetes oder HIV), sozioökonomischem Status, demografischem Hintergrund oder parodontaler Diagnose (chronische oder aggressive Parodontitis) beziehungsweise der durchgeführten Parodontitistherapie.
Diagnostisches Verfahren/Intervention/Exposure
Zur Erhebung der OLQ wurden acht unterschiedliche standardisierte und validierte Fragebögen angewandt, wobei die gekürzte Version des Oral Health Impact Profile (OHIP-14) am häufigsten verwendet wurde. Die klinischen parodontalen Parameter ST und CAL wurden in zwölf der eingeschlossenen Studien mit einem parodontalen Screening Index im Sinne einer partiellen Befundaufnahme (Partial Mouth Recording: PMR) erhoben. Im Vergleich dazu erfolgte in 23 Untersuchungen eine parodontale Befundung der gesamten Dentition (Full Mouth Recording: FMR; siehe Tabelle 1).
Vergleich/Comparison
Insgesamt konnte in 28 der 37 Studien eine Assoziation zwischen der parodontalen Gesundheit und der OLQ im Allgemeinen oder unterschiedlichen OLQ-Bereichen aufgezeigt werden (Abb. 3). Erfolgte eine umfassende parodontale Befundaufnahme (FMR), war der Nachweis einer Assoziation wahrscheinlicher. Entsprechend wurden in 20 der 28 Studien mit nachgewiesener Beeinträchtigung der OLQ die parodontalen Parameter mittels FMR erhoben. Im Vergleich dazu wiesen sieben der zwölf Publikationen mit reduzierter parodontaler Befundung (PMR) eine entsprechende Assoziation auf (Abb. 4).
In 14 Publikationen wurden Assoziationen zwischen parodontaler Erkrankung und den unterschiedlichen OLQ-Bereichen verzeichnet, wobei die funktionellen Domänen (zum Beispiel Essen, Sprechen) nebst den psychosozialen Aspekten (zum Beispiel Erscheinung, Selbstvertrauen, Kommunikation) und Schmerzen am häufigsten beeinflusst wurden.
Ergebnis/Outcome
Patienten mit Parodontitis wiesen im Vergleich zu parodontal Gesunden eine stärkere Beeinträchtigung der OLQ auf. Zudem stellten acht Studien eine erhöhte Beeinträchtigung der OLQ mit zunehmendem Schweregrad der parodontalen Erkrankung fest.
Diskussion
Im Rahmen dieser systematischen Übersichtsarbeit konnte eine Beeinträchtigung der OLQ durch parodontale Erkrankungen aufgezeigt werden1. Gleichzeitig war in einigen Studien eine Dosis-Wirkungs-Beziehung erkennbar, das heißt, die OLQ wurde mit zunehmendem parodontalen Krankheitsgrad beeinträchtigt.
Die Lebensqualität wird durch verschiedene Faktoren wesentlich beeinflusst. So wurde beschrieben, dass die OLQ je nach sozioökonomischem Status, Wohnort, Alter oder Geschlecht unterschiedlich wahrgenommen werden kann15–19. Auch eine eingeschränkte Gesundheit und die damit assoziierte Medikamenteneinnahme kann die Lebensqualität stark beeinflussen20. Daher sind Vergleiche und Interpretationen der unterschiedlichen Studienergebnisse durch die große Diversität der Populationen hinsichtlich demografischer und sozioökonomischer Aspekte, aber auch aufgrund unterschiedlicher Methodologie erschwert21. Um die genannten limitierenden Faktoren zu entkräften, wurden in der vorliegenden Arbeit zusätzlich die Ergebnisse derjenigen Studien verglichen, welche mittels statistischer Verfahren den Einfluss dieser Faktoren berücksichtigten. Auch hier konnte eine Mehrheit der Studien einen einschränkenden Effekt einer Parodontitis auf die Lebensqualität zeigen.
Der direkte Vergleich der gängigen Fragebögen kann durch unterschiedliche Auswertungsverfahren und Gewichtung, aber auch durch unterschiedliche Wertvorstellungen, Erwartungen und Auffassungen der betroffenen Populationen beeinflusst werden22,23. Zudem wurden nicht immer die gleichen Bereiche der OLQ berücksichtigt oder von Patienten beschriebene Symptome parodontaler Erkrankungen mit den OLQ-Daten korreliert. Um dem gerecht zu werden, wurden in der vorliegenden Arbeit ausschließlich die Korrelationen zwischen OLQ-Werten aus validierten und akzeptierten Fragebögen und den objektiv messbaren, klinischen parodontalen Parametern berücksichtigt. Dabei zeigte sich, dass die Korrelation zwischen einer beeinträchtigten OLQ und dem Attachmentlevel eher detektiert werden kann als eine Assoziation zu den Sondierungstiefen. Dies könnte auf der Tatsache beruhen, dass gingivale Rezessionen als Zeichen eines manifesten, jedoch nicht zwingend entzündlich bedingten Gewebeverlusts oft mit reduzierter OLQ einhergehen (zum Beispiel verhaltenes Lachen zur Vermeidung der Sichtbarkeit eines unregelmäßigen und unharmonischen Gingivaverlaufs). Demgegenüber bleibt eine erhöhte Sondierungstiefe, sofern keine akute Exazerbation der Parodontitis vorliegt, häufig vom Patienten unbemerkt. In dieser Übersicht konnte auch gezeigt werden, dass ein zunehmender Schweregrad der parodontalen Erkrankung zu einer verstärkten Beeinträchtigung der bereits benachteiligten OLQ- Bereiche und nicht unbedingt zu einer zusätzlichen Beeinträchtigung weiterer Bereiche der Lebensqualität führte24.
Eine umfassende parodontale Befundaufnahme ist daher ratsam, wenn Studien zum Zusammenhang von OLQ und Parodontitis durchgeführt werden sollen. Dies erscheint insbesondere unter Berücksichtigung des stellenspezifischen und unterschiedlich progressiven Charakters parodontaler Erkrankungen gut begründbar. Zudem wurde bereits früher und in anderen Zusammenhängen beschrieben, dass eine partielle parodontale Befundung häufig zu einer Unterschätzung des parodontalen Erkrankungsgrads führt2. Parodontale Teilbefundungen oder sogenannte Screeningindizes sind daher auch außerhalb wissenschaftlicher Untersuchungen, im Rahmen der klinischen Routine, immer nur unter Vorbehalt und mit dem Risiko des Übersehens parodontaler Probleme zu sehen23.
Die Ergebnisse dieser systematischen Übersicht ergänzen die Daten, die von Al-Harthi et al. 2013 in einer Übersichtsarbeit mit anderen Einschlusskriterien und dadurch deutlich geringerer Studienzahl publiziert wurden21. Auch hier wurde eine Korrelation zwischen parodontaler Gesundheit und OLQ beschrieben. Shanbhag et al. untersuchten Veränderungen der OLQ durch eine parodontale Therapie und zeigten, dass eine nichtchirurgische Therapie die OLQ verbessern kann6. Darüber hinaus scheint ein unzureichendes parodontales Therapieergebnis mit einer kompromittierten OLQ zu korrelieren.
Schlussfolgerungen
Diese systematische Übersicht zeigt, dass eine unbehandelte Parodontitis die (mundgesundheitsbezogene) Lebensqualität beeinträchtigt. Verschiedene funktionelle, aber auch psychologische Aspekte sind in unterschiedlicher Ausprägung betroffen und der nachteilige Effekt auf die Lebensqualität verstärkt sich mit zunehmendem parodontalen Krankheitsgrad. Parodontitis kann somit nicht als eine „stille“ Erkrankung bezeichnet werden, das heißt, Parodontitis wird vom Patienten über eine Beeinträchtigung der Lebensqualität wahrgenommen. Aus praktischer Sicht bedeutet das, dass Patienten in der zahnärztlichen Praxis regelmäßig gründlich parodontal untersucht und individuell über diesen Zusammenhang aufgeklärt werden sollten. Liegt eine Parodontitis vor, so kann durch eine entsprechende, angemessene therapeutische Intervention und vor allem durch eine lebenslange unterstützende parodontale Therapie nachhaltig zur Verbesserung der Lebensqualität der betroffenen Patienten beigetragen werden.
Ein Beitrag von Dr. Sabrina L. Signer-Buset, Silwan Mendes, Prof. Dr. Nicola U. Zitzmann, Prof. Dr. Roland Weiger, Prof. Dr. Clemens Walter, alle Basel, Schweiz, Prof. Dr. Anton Friedmann, Witten, und Wenche S. Borgnakke, Ann Arbor, USA
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