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Kassen vor der Insolvenz, offene Baustellen und Brandbeschleuniger – nach der Wahl ist vor der Wahl, so Dr. Uwe Axel Richter, und legt den Finger in die gesundheitspolitischen Brandwunden

(c) Fadaway Creative/Shutterstock.com

Die Wahl zur 21. Legislatur des Bundestags und ein inhaltsarmer wie benimmfreier Wahlkampf rund um tatsächliche oder lediglich parteipolitische Schicksalsfragen haben ein Ende gefunden. Zuspitzungen, Abgrenzungen inklusive Beleidigungen gab es überreichlich, argumentative Auseinandersetzungen und realistisch umsetzbare Lösungsvorschläge für die vielen Probleme dieses Landes blieben hingegen die Ausnahme.

Dass die wahlkämpfenden Parteien und selbst der noch amtierende Gesundheitsminister – Karl Lauterbach war angesichts seines sonstigen Mitteilungsbedürfnisses bezeichnenderweise geradezu leise – einen großen Bogen um gesundheitspolitische Themen machten, mag der mittlerweile erreichten Überkomplexität das Gesundheitswesen und des weiter zunehmenden finanziellen Drucks im System geschuldet sein. Die Folgen der demographischen Entwicklung kamen eben nicht über Nacht, sondern sind so breit wie langatmig diskutiert worden, dass man diese nicht mehr hören mag.

Im Gesundheitswesen kommt jetzt alles zusammen

Für das Gesundheitswesen kommt derzeit aber auch alles zusammen: Die deutsche Wirtschaft stagniert beziehungsweise schrumpft, statt wie gewohnt zu wachsen. Gleichzeitig steigen die Kosten massiv an mit der Folge, dass sich die Beitragssätze für die Sozialversicherungen bereits auf ca. 42,5 Prozent summieren. Und die nächste Erhöhung steht nach Aussage der Krankenkassen bereits vor der Tür.

Wann kommt der Kontrollverlust, sprich die Kasseninsolvenz?

Damit wird ein Kontrollverlust immer wahrscheinlicher. Glauben Sie nicht? Der Vorstandsvorsitzende der DAK, Andreas Storm, und der TK-Chef Dr. Jens Baas schlugen wie die BKK-Vorständin Anne-Kathrin Klemm vergangenen Woche angesichts eines Kassendefizits von rund sechs Milliarden Euro(!) für 2024 Alarm. Storm erklärte unter Verweis auf die Bankenkrise 2008/2009, „wenn ein halbes Dutzend Krankenkassen mit deutlich über einer Million Versicherten in die Zahlungsunfähigkeit rutschten, könnte das das gesamte System an den Rand des Zusammenbruchs führen. Es habe ‚noch nie‘ die Situation gegeben, dass die Reserven der Krankenkassen auf einem so niedrigen Stand waren wie zurzeit, sagte er. Aktuell reichten die Reserven, um Ausgaben für etwa 2,5 Tage zu decken. Storm erwartet weitere Erhöhungen der Zusatzbeiträge der Krankenkassen für die Versicherten noch im Verlauf dieses Jahres.“

Ergebnis einer verfehlten Gesundheitspolitik

Genau das ist das Ergebnis einer Politik, die jahrzehntelang – und zwar von jeder Partei – trotz gegenseitiger Beteuerungen den verantwortungslosen Weg der sozialen Wohltaten zu Lasten der Sozialversicherungen gegangen ist. Gleich, ob „GroKo“, bürgerlich-liberal oder Ampel: Mit dem Griff in die Kassenreserven wurden Defizite verschleiert, Wohltaten an die Wähler verteilt und versicherungsfremde Leistungen finanziert, die eigentlich aus Steuermitteln geleistet werden müssten. Die Konsequenzen daraus werden in des Wortes wahrstem Sinne allseitig schmerzhaft werden. Denn ohne Verzicht werden die notwendigen Einschnitte nicht vonstattengehen können.

Lauterbach hinterlässt Brandbeschleuniger auf der Dauerbaustelle

Hinzu kommen noch die von Lauterbach dank seiner gut dreijährigen halbgaren Reformbemühungen hinterlassenen Brandbeschleuniger. Denn außer dem Cannabis-Gesetz und dem gesetzlichen Versprechen, Forschung und Industrie an den ePA-Daten der GKV-Versicherten partizipieren zu lassen, sind alle(!) versorgungsrelevanten Baustellen „under construction“. Die Krankenhausreform, hausärztliche und fachärztlich Versorgung, ambulantes Operieren, fehlende Notfallreform und einige Baustellen mehr harren ihrer strukturierten Erledigung. Immer mit der Frage: Woher soll das Geld dafür kommen?

Gesundheitswesen zum Glück kaum Wahlkampfthema

Kein Wunder, dass das Gesundheitswesen trotz unübersehbarer Herausforderungen im Wahlkampf thematisch so gut wie nicht stattgefunden hat – obwohl es auf der politischen Prioritätenliste der Bürger dieses Landes ganz oben steht. Denn wohin populistisch aus der Hüfte geschossene Vorschläge hinführen können, machte der einzige diesbezügliche Vorschlag des Kanzlerkandidaten der CDU deutlich: in die eigenen Füße! Friedrich Merz kam nämlich auf die großartige Idee, den nun für April angedachten bundesweiten Rollout der „ePA für alle“ mit Industriefreundlichkeit und gleichzeitigem Beitragsrabatt für die GKV-Beitragszahlenden befeuern zu wollen. Voraussetzung sollte sein, dass diese ihre ePA-Inhalte für Forschungszwecke zur Verfügung stellen.

„Win – win – lose“

Dumm nur, dass der von ihm vorgeschlagene 10-Prozent-Rabatt auf den Kassenbeitrag voll zu Lasten der angesichts der steigenden Kosten mit dem Rücken zur Wand stehenden GKV gegangen wäre. Die GKV sprach in einer ersten Einschätzung von Mindereinnahmen in Höhe von rund 15 Milliarden Euro, wenn die Hälfte der Beitragszahler das Angebot annehmen würden. Schlappe 15 Milliarden Euro Einnahmen weniger bei einem wohlgemerkt bereits in 2024 aufgelaufenen Kassenminus von satten 6 Milliarden Euro – Innungskrankenkassen 662 Millionen Euro, Betriebskrankenkassen 1,4 Milliarden Euro, AOKen 1,5 Milliarden Euro und Ersatzkassen 2,5 Milliarden Euro. Tendenz für 2025: Trotz Beitragserhöhungen weiter steigend.

Lauterbach hat den Datenschatz bereits „verkauft“

Unterstellen wir also Herrn Merz (und seinem Wahlkampfberaterteam), dass er lediglich die Akzeptanz der ePA im Auge hatte. Denn die Forschung wie auch die (Pharma-)Industrie brauchte er definitiv nicht mehr zu beglücken. Das hatte bereits Gesundheitsminister Karl Lauterbach von der SPD vor über einem Jahr mit dem Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) getan. Und bereits Ende November des letzten Jahres noch einen oben draufgesetzt, als er Verhandlungen mit Meta, OpenAI und Google zwecks Zugriffes auf die Gesundheitsdaten bestätigte.

Weltweite Drift persönlicher Daten

Falls an dieser Stelle ein mulmiges Gefühl aufkommen sollte, sei an die beruhigenden Worte Lauterbachs erinnert, dass ja alle Daten ja nur pseudonymisiert weitergegeben würden. Da passt es gut, den europäischen Raum für Gesundheitsdaten (European Health Data Space – EHDS) in Erinnerung zu bringen. In dieser europäischen „Räumlichkeit“ werden die Daten eben nicht nur pseudonymisiert untergebracht. 

Schließlich sollen diese die europäische Gesundheitsunion möglich machen. Zitat: „Diese bahnbrechende Initiative, die die Kommission im Mai 2022 vorgelegt hat, verfolgt zwei Hauptziele:

  • Die Bürgerinnen und Bürger sollen in den Mittelpunkt der Gesundheitsversorgung gerückt werden und die volle Kontrolle über ihre Daten erhalten, um eine bessere Gesundheitsversorgung in der gesamten EU zu erreichen (Primärnutzung);
  • Gesundheitsdaten sollen unter strengen Auflagen für die Zwecke von Forschung und Gesundheitswesen genutzt werden dürfen (Sekundärnutzung).“

Man achte bitte auf den letzten Satz. Nun denn, Gesundheitspolitik ist komplex, in Deutschland gar überkomplex. Man findet sich schneller in einem weiteren gesundheitspolitischen Schraubstock wieder, als einem lieb sein kann. Angesichts der verzwickten Gemengelage wird Kanzlerkandidat Merz seine Finger sicher nicht noch einmal ohne Not in das Haifischbecken Gesundheitspolitik stecken wollen.

CDU will Poliklinik 2.0

Das braucht er auch nicht. Dafür sorgen schon die fünf Landesverbände der CDU aus den ostdeutschen Bundesländern. Fünf Tage vor der Bundestagwahl veröffentlichte man ein gemeinsames Impulspapier. Zunehmenden Wartezeiten, klammen Kassen und dem Personalmangel will man begegnen, indem man die personellen und finanziellen Ressourcen des Gesundheitssystems besser verwaltet(sic!). Dem Personalmangel im Gesundheitswesen will man mit verschiedenen Maßnahmen entgegentreten, zum Beispiel, indem man die Zahl der Studienplätze in Mangelberufen wie Human- und Zahnmedizin erhöht, eine Landschwester einführt, Telemedizin verstärkt und die bürokratischen Vorgaben und Dokumentationspflichten reduziert. Und dann leuchtete aus dem langen Schattenwurf der Lauterbach’schen Krankenhausreform noch ein Lichtschein hervor: die „Poliklinik 2.0“.

Frei nach Einstein formuliert: Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert. Deshalb wird es wohl, egal wie die Regierungsbildung nach der Wahl verlaufen wird, bei den gleichen politischen Figuren bleiben. Und damit ist eine Wiederkehr des Masters of desaster, Prof. Dr. Karl Lauterbach, alles andere als unwahrscheinlich. Schließlich hat er seinen Wahlkreis in Köln als Direktkandidat sehr deutlich mit 32,7 Prozent der Erststimmen geholt und wird wieder Abgeordneter im Deutschen Bundestag.

Krankenkassen stehen politisch gewollt ohne Reserven da

Deshalb nachfolgend ein weiteres Zitat aus dem zu Beginn erwähnten Statement zur Situation aus Kassensicht. So warnte DAK-Chef Andreas Storm angesichts der neuen Zahlen vor dramatischen Folgen. „Die Finanzlage der Kassen hat sich von schlecht zu katastrophal entwickelt“, sagte Storm. „Das hohe Defizit frisst die wenigen verbliebenen Reserven der GKV nahezu auf. Es gibt fast keinen Spielraum mehr. Wenn sich die Lage weiter verschlechtert, ist ein Teil der Kassenlandschaft am Rande der Insolvenz." Von der neuen Bundesregierung erwartet er deshalb „ein Sofortprogramm, um die Kassen unmittelbar nach Amtsübernahme zu stabilisieren“.

Weniger Bürokratie wäre die intelligenteste Form des Sparens

Ohne lästern zu wollen: Mehr Studienplätze für Human- und Zahnmediziner sind vieles, aber kein Sofortprogramm zur Stabilisierung der Kassen. Sofort wirksam wäre nur eine Maßnahme: Der Bund übernimmt endlich die Kosten der von ihm verursachten versicherungsfremden Leistungen. Das ist zwar kein frisches, sondern nur umverteiltes Geld. Es würde aber immerhin Luft verschaffen für die Umsetzung all der angeschobenen Reformen für das Gesundheitswesen.

Eine solche Maßnahme ist aber keinesfalls Ersatz für dringend notwendige Entbürokratisierung. Weniger Bürokratie ist die intelligenteste Form des Sparens, welches Kosten senkt und Freiräume schafft. Verbunden mit mehr echter Wertschätzung für diejenigen, welche die Versorgung physisch und psychisch schultern leisten, würde dies das „Ausbluten“ des Systems zumindest deutlich verlangsamen.

Mehr als ein politischer Brandherd für eine neue Bundesregierung

Ob das mit dem vorhandenen Politpersonal realisiert werden kann, entscheidet mit darüber, wie schnell wir wieder vor Neuwahlen stehen werden. Denn nicht nur im Gesundheitswesen lodern die von der Politik hier selbst fahrlässig verursachten Brände überall. Auch die außen-, wirtschafts- und verteidigungspolitischen Brandherde, die unsere Demokratie ebenfalls bedrohen, verlangen ein schnelles Handeln einer neuen Bundesregierung. Und die muss sich erstmal finden. Schnell.

Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf 


Foto: Verena Galias
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.

 

Reference: Politik Wirtschaft Nachrichten

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