Welche Auswirkungen haben die fortschreitende Digitalisierung des Gesundheitswesens und die Nutzung Künstlicher Intelligenz (KI) auf die Gesundheitsversorgung? Beim 17. Europatag der Bundeszahnärztekammer (BZÄK) unter dem Titel „Europa auf dem Weg zu Digital Health?“ diskutierten Expertinnen und Experten diese Fragen am 30. März 2022 im Hybrid-Format in Brüssel.
Hintergrund waren verschiedene laufende EU-Initiativen, die dazu beitragen sollen, die Nutzung elektronischer Gesundheitsdienste europaweit zu intensivieren. Gemeinsam mit Vertreterinnen und Vertretern der EU-Institutionen, der Wissenschaft und des Berufsstands wurde über die Frage diskutiert, welche Entwicklungen in diesem Zusammenhang auf europäischer Ebene zu erwarten sind.
In seiner Begrüßung stellte BZÄK-Präsident Prof. Dr. Christoph Benz die Frage, ob es sich bei KI wirklich um Anwendungen handelt, die so viel verbessern werden, oder ob das vielleicht nur ein Hype sei. Er forderte weniger Science Fiction, sondern mehr Realität in der Diskussion dieser Themen. Es fehle noch an schlüssigen Erfolgsgeschichten zu den Versprechungen, die mit Blick auf Big Data und KI auch für eine bessere Medizin gemacht werden. Die Zahnärzteschaft sei ein sehr technikaffiner und digital ausgerichteter Berufsstand, erklärte er. Mit Blick auf die zunehmende Nutzung von Künstlicher Intelligenz wies Benz darauf hin, dass diese nur Empfehlungen geben sollte, die menschliche (Behandlungs-)Entscheidung aber nicht ersetzen dürfe.
Vieles ist noch Versprechen
Es gebe bereits moderne Anwendungen für die Zahnmedizin, die mit KI arbeiten, berichtete Prof. Dr. Falk Schwendicke, Leiter und W3-Professur für Orale Diagnostik, Digitale Zahnheilkunde und Versorgungsforschung an der Charité – Universitätsmedizin Berlin, und in der Weltgesundheitsorganisation WHO und der internationalen Zahnärztegesellschaft FDI in den Gremien aktiv, die sich mit KI befassen, in seinem Startvortrag. Grundsätzlich hätten KI-basierte Systeme ein großes Potenzial, Mediziner in ihrer Diagnostik und Entscheidungsfindung zu unterstützen, einige Systeme seien bereits besser als gute Mediziner. Solche Systeme seien auch schon im Einsatz, allerdings seien sie in der Zahnmedizin noch nicht viel mehr als ein Versprechen. Die Onkologie sei hier schon weiter.
Die endgültige Entscheidung müsse aber immer beim Arzt liegen, so Schwendicke, und lenkte den Blick auf die kritischen Punkte. KI sei kein Wert und kein Qualitätsmerkmal an sich. Noch verstünden nicht nur Ärzte die KI oft schlecht. Entscheidend sei die Frage, was die Maschine denn gelernt habe, wie robust sie sei – durch was lässt sich die KI zum Beispiel in der Bildanalyse irritieren? – und ob die gelernten Daten generalisierbar seien. Wenn der Algorithmus falsche Zusammenhänge gelernt habe, funktioniere die Anwendung in anderen Bereichen schlicht nicht zuverlässig. Da reiche schon der Unterschied in der zahnärztlichen Behandlung zum Beispiel in Deutschland und in Indien. Um gute KI-Anwendungen zum Beispiel EU-weit einsetzen zu können, fehle es auch noch an Klassifikationen und Standards.
Es braucht Domain-Wissen der Anwender
Von der technischen Seite her sei grundsätzlich sehr viel möglich. Ob es aber tatsächlich einen Nutzen bringe, oder vielleicht sogar gefährlich sei, hänge vom jeweils zugrundliegenden Domain-Wissen ab, also hier dem Fachwissen und der Kompetenz der Anwendergruppe Zahnärzte. Und daran fehle es bei vielen der Anwendungen noch. (Dass hierfür auch der Mangel an Kapital für Forschung und Entwicklung solcher Anwendungen in Deutschland und Europa verantwortlich ist, hatte Schwendicke schon zu Beginn angemerkt.) „Wenn wir es nicht machen, werden es andere, auch große internationale Player machen“, so seine Mahnung.
Diesem Thema widmet sich nun die EU-Ebene, sowohl das Europaparlament als auch die Europäische Kommission befassen sich mit der Frage, wie KI-Anwendungen gestaltet und auch – mit Blick auf Menschenbild, Ethik, Menschenrechte, Datenschutz – reguliert werden können und müssen. Die EU ist im Begriff, den Einsatz Künstlicher Intelligenz auf einem risikobasierten Ansatz zu regeln. Für Anfang April 2022 hat die Europäische Kommission zudem angekündigt, einen Gesetzesvorschlag für die Schaffung eines europäischen Gesundheitsdatenraums vorlegen zu wollen. Für die Kommission steht der europaweite sichere Zugang zu einer elektronischen Patientenakte im Vordergrund, was eine Interoperabilität der bestehenden nationalen Patientendatensysteme voraussetzt.
Das bestimmte auch die anschließende Diskussion. Was soll die KI dürfen, welche Anwendungen sind nicht erwünscht, was passiert mit Anwendungen aus Drittstaaten außerhalb der EU, die diesen Kriterien nicht entsprechen, zum Beispiel Social-Scoring-Software, wie sie in China schon zur Kontrolle des Verhaltens der Menschen im Einsatz ist? Das Spannungsfeld dahinter erläuterte Marion Walsmann, MdEP (CDU). Sie ist Mitglied des Binnenmarktausschusses (IMCO) und des Sonderausschusses zu künstlicher Intelligenz im digitalen Zeitalter des Europäischen Parlaments (EP).
Dass KI medizinisch und auch wirtschaftlich Vorteile bringen könne, sei klar. Problematisch wird es aber schon bei der Idee, medizinische Software mit KI zu prüfen. Hier fehle es an Prüfkriterien und vor allem an Fachpersonal bei den Benannten Stellen, die solche Anwendungen überhaupt beurteilen können.
Deutschlands Agieren beim Datenschutz
Es sei aber ein Fehler, vor dem Hintergrund dieser richtigen Bedenken und notwendigen Regulierungen die Digitalisierung insgesamt zu verteufeln. Auch das wurde in der Diskussion klar. Die europäische Datenschutzgrundverordnung sei sehr gut und erlaube sinnvolle Nutzungen digitaler Anwendungen im Gesundheitswesen, konstatierte auch Dr. Frank Niggemeier, Geschäftsführer des Sachverständigenrats Gesundheit. Wie Deutschland in Sachen Datenschutz gerade im Gesundheitsbereich agiere, sei aber ein anderes Thema, so die Diskussionsrunde. Das werde schon daraus deutlich, dass es hierzulande 18 Datenschutzbeauftragte gebe – einen auf Bundesebene, 15 in den Bundesländern und gleich zwei in Bayern. Schon bei Gemeinschaftsprojekten von Universitäten aus verschiedenen Bundesländern gebe es dadurch Hindernisse und einen großen bürokratischen Aufwand, wurde berichtet. Hier sei etwas mehr Vertrauen angebracht, wie man es beim Bankenwesen ja auch praktiziere, hieß es aus der Runde.
In Dänemark schon fast alles digital
Dass manches aus der deutschen Diskussion in der Ärzte- und Zahnärzteschaft zum Thema Datenschutz und auch zur Erstattung der Anschaffungskosten für Außenstehende nicht nachvollziehbar ist, machten die Beispiele aus Dänemark deutlich. Dr. Freddie Sloth-Lisbjerg, Zahnarzt und Präsident des Council of European Dentists (CED), berichtet aus seinem Alltag, der in weiten Teilen digital ist. Seine Existenz stecke in seinem Smartphone – von der Steuererklärung bis zur Fahrerlaubnis und der Krankenversicherung. Wenn die Experten und die dänische Regierung nach reiflicher Prüfung digitale Anwendungen für sinnvoll halten, werden diese per Gesetz eingeführt. Und dann beschaffe er sich als Zahnarzt diese neuen Werkzeuge, zumeist auf eigene Kosten.
Die elektronische Patientenakte gebe es schon seit zehn Jahren, Papier sei nicht mehr erlaubt, jeder Däne habe ein offizielles elektronisches Postfach für die medizinische Kommunikation. Gläserner Patient? „Wir haben diese Ängste nicht“, erklärte er. Mit einer neuen, jetzt vorgeschriebenen digitalen Medikamentencard könne er zum Beispiel alle Medikamente sehen, die ein Patient verschrieben bekommen habe. Natürlich sei dies auch grenzwertig, aber für ihn zugleich ein hoher Vorteil für die Behandlung. Als Zahnarzt sei er zur vollständigen Anamnese verpflichtet, und wenn ein Patient sich in seinen Behandlungsstuhl setze, stimme er zugleich zu, dass er als Arzt alle Daten einsehen dürfe. Die hohen Investitionskosten für die neuen digitalen Anwendungen führten auf der anderen Seite aber auch dazu, dass sich Einzelpraxen dies vermutlich auf Dauer wirtschaftlich nicht mehr allein leisten könnten.
Nötiges Wissen in Aus-, Fort- und Weiterbildung vermitteln
Dass die Zahnärzteschaft nicht nur in Deutschland auf diesen Umgang mit KI-Anwendungen, die zugehörige Risikobewertung noch nicht vorbereitet ist, wurde ebenfalls diskutiert. Es brauche dann auch die nötige Aus-, Fort- und Weiterbildung, und dafür sei bei den Universitäten in Deutschland auch der Staat gefordert. „Wenn wir die Technik nicht beherrschen können, beherrscht sie uns“, mahnte der Ehrenpräsident der Bundeszahnärztekammer, Dr. Peter Engel, in der Diskussion. Es brauche eine wissenschaftliche, positive Kritikfähigkeit, die Deutschen sollten bei diesem Thema positiv und mit offenen Augen in die Zukunft gehen, so sein Appell.
Als Berufsstand frühzeitig einbringen, alle mitnehmen
Welche Eckpunkte die BZÄK dazu setzt, fasste Dr. Michael Frank, Kammerpräsident in Hessen und Präsident der European Regional Organization (ERO) der World Dental Federation (FDI), in seinen Schlussworten zusammen. Als Kernforderungen nannte er Unabhängigkeit und Eigenverantwortung der Heilberufe beim Einsatz von KI-Anwendungen, das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient müsse wesentliche Grundlage bleiben. Die letzte Entscheidung müsse immer beim Menschen liegen, die KI dürfe nur Empfehlungen geben. Die Gesundheitsdaten seien keine kommerzielle Ware, ihr Missbrauch müsse unbedingt verhindert werden. Und die Heilberufe müssten sich frühzeitig und intensiv in die mit der Digitalisierung im Gesundheitswesen einhergehenden Veränderungen der Gesellschaft einbringen und dabei auch den gesamten Berufsstand mitnehmen.
Dr. Marion Marschall, Berlin