Der 1. Juli 2021 sollte für die Digitalisierung des Gesundheitswesens ein echter Meilenstein werden. Doch wie immer in der langen Geschichte der Telematikinfrastruktur (TI) – mittlerweile redet man schon von TI 2.0 –, gleicht der gesetzlich verordnete Digitalsprint nach wie vor eher einer Springprozession, egal wie heftig der politische Druck auf die Vielzahl der Beteiligten auch ist. Und so knallten am 1. Juli auch keine Champagnerkorken. Ein kurzes Update.
Was haben europäische Länder wie Kroatien, Türkei, Spanien – und es gibt noch einige mehr –, was wir in Deutschland nicht haben? Antwort: Eine bereits funktionierende digitale Gesundheitsversorgung, wie sie Ulla Schmidt schon vor 20 Jahren in der deutschen Version als Telematikinfrastruktur vorschwebte: digitale Verordnungen, Medikationspläne, elektronische Patientenakten. Wir reden also nicht über „rocket science“, sondern über „state of the art“ in der Gesundheitsversorgung.
Zwischen verspäteter Technik und Sanktionsandrohung
Jedoch erst als Jens Spahn einige Legislaturen später Gesundheitsminister wurde, kam richtig Druck auf den TI-Kessel. Um die Heilberufler „auf Trab“ zu bringen, schwang er gerne die Peitsche der gesetzlichen Sanktionsandrohungen. Sollte „die Technik“, wie es leider häufiger der Fall war, nicht rechtzeitig verfügbar sein, muss man sie trotzdem nachweisbar vor dem Stichtag bestellt haben, um keine generelle Kürzung des Honorars von immerhin 1 Prozent zu erleiden.
Nachdem nun fast alle Ärzte und Zahnärzte – die Apotheker im Jahr 2020 in einem Hauruckverfahren trotz Pandemie – an die TI angeschlossen sind, über den eHBA, den elektronischen Heilberufeausweis, verfügen oder diesen wenigstens bis zum 30. Juni bestellt haben sollten, und zudem fristgerecht über einen für die ePA-Funktionalitäten zugelassenen Konnektor verfügen, könnte es mit der ePA eigentlich flächendeckend losgehen. Eigentlich, denn bei den zugelassenen Konnektoren erleben wir das gleiche Spiel: eins vor, zwei zurück. Nur zwei der Konnektoren standen (auf den letzten Drücker) laut Pressemeldung der Gematik zum Stichtag zertifiziert zur Verfügung.
Belastungen wieder nur für die Heilberufler
Auch wenn man davon ausgehen kann, dass die Zertifizierung des dritten Konnektors in den nächsten Wochen erfolgen wird, bin ich gespannt, wie viele der Patienten die Befüllung ihrer ePA bereits verlangen werden. Sie wissen ja von der technischen Misere nichts. Und notwendige Erklärungen, warum die ePA erst später befüllt werden kann, belasten wieder einmal nur das Zeitbudget der Heilberufler. Politik und Gematik trifft es nicht.
Das eRezept startet – in einer Apotheke und ohne testfähiges eRezept
So weit ist das eRezept noch nicht. Zum 1 Juli sollte es zwar starten, doch daraus wurde: nichts. Trotz großer Ankündigungen und enormen politischen Drucks seitens des Gesundheitsministers, kam es lediglich zu einer neuen Interpretation eines „Sanftanlaufs“, denn aus dem bundesweiten Start wurde eine Fokusregion wurde eine (in Zahlen: 1!) Apotheke.
Und selbst „eine Apotheke“ ist noch charmant ausgedrückt, denn laut Gematik gibt es, so der Branchendienst „apotheke adhoc“, derzeit noch gar kein testfähiges eRezept. Dennoch zeigt man sich überzeugt, den Zeitplan einhalten zu können.
Der Testlauf soll jedenfalls wie geplant im 3. Quartal dieses Jahres stattfinden, am 1. Januar 2022 soll in ganz Deutschland mit dem eRezept gestartet werden. Ohne breite Testung ist man also seitens der Gematik und im Bundesgesundheitsministerium überzeugt, die in 2020 angefallenen 445 Millionen Rezepte – also rund 1,7 Millionen Rezepte pro Arbeitstag – fehlerfrei abzuwickeln. Wirklich? Aber dieses Problem wird dann nicht mehr Jens Spahn zu lösen haben, sondern mit großer Wahrscheinlichkeit ein neuer Minister oder eine neue Ministerin.
So, wie es derzeit aussieht, wird Gesundheitsminister Jens Spahn – Pandemie hin oder her – angesichts der in gut drei Monaten anstehenden Bundestagswahl trotz aller diesbezüglicher Aktivitäten nicht als der Digitalisierungssuperminister in die Geschichte eingehen, als der er sich gerne geriert.
Patienten sind bei Telemedizin eher skeptisch
Apropos Patienten. Hier förderte der kürzlich veröffentlichte Stada Health Report 2021 Interessantes zu Tage. Befragt wurden 30.000 Erwachsene in 15 europäischen Ländern. Als repräsentative Online-Befragung durchgeführt, kann man dennoch davon ausgehen, dass sich besonders digital affine Erwachsene an der Umfrage beteiligt haben. Umso bemerkenswerter ist daher, dass die „Webcam Behandlung trotz Lockdown europaweit unbeliebter wird. Nur noch 57 Prozent können sich eine Behandlung per Webcam vorstellen. 2020 waren es noch 70 Prozent – ein Rückgang um 13 Prozentpunkte“.
Das „digitale Leben“ ist nicht alles
Während die Akzeptanz der Telemedizin während der Pandemie sank, stieg die der Healthcare Professionals auf 81 Prozent. Dieses Befragungsergebnis schmälert das Potenzial der Telemedizin, wenn sinnhaft eingesetzt, nicht. Eher ist eine Webcam-Müdigkeit infolge der während der Pandemie massiv angestiegenen Onlinenutzung anzunehmen. Es ist aber ein Fingerzeig darauf, dass das „digitale Leben“ nicht alles ist. Eine persönliche Betreuung behält nicht nur in Krisenzeiten ihren Wert.
Was leider nicht für Glaubwürdigkeit von Politikern (7 Prozent) und allgemeinen Medien (10 Prozent) gilt, weit hinter den Pharmaunternehmen mit 24 Prozent. Und das ist nun wirklich verblüffend.
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.