In der vergangenen Woche sind viele Arztpraxen geschlossen geblieben – der Virchowbund und weitere Ärzteverbände, auch der Freie Verband Deutscher Zahnärzte, hatten die Praxisinhaber aufgefordert, ihre Praxen als Zeichen des Protests gegen die Gesundheitspolitik zu schließen. Der Virchowbund kündigte bereits weitere Schließungen an, wenn das für den 9. Januar 2024 geplante Treffen mit Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach keine Ergebnisse bringe.
„Die Reaktion von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach auf den Ärzteprotest zeigt, dass die Proteste richtig und wichtig sind und wir offenbar einen längeren Atem brauchen als befürchtet. Wir haben diesen langen Atem“, erklärte der Bundesvorsitzende des Virchowbundes, Dr. Dirk Heinrich, dazu am 28. Dezember 2023.
Ausreichende und nachhaltige Finanzierung ambulanter Strukturen
Entgegen der Annahme von Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach gehe es nicht um die Steigerung von Arzteinkommen, sondern um eine ausreichende und nachhaltige Finanzierung der bestehenden ambulanten Strukturen. Diese Strukturen seien in akuter Gefahr, weil der ambulante Bereich durch die seit inzwischen 30 Jahren andauernde Budgetierung der am meisten unterfinanzierte Sektor im Gesundheitswesen ist. „Es ist niemandem zu erklären, warum ein Facharzt in Bayern 96 Prozent seiner Leistung bezahlt bekommt, in Thüringen oder Hamburg aber nur 70 Prozent, und warum ein Hausarzt in Hamburg nur 70 Prozent und in Thüringen 106 Prozent seiner Leistungen erhält. Das ist weder wirtschaftlich noch logisch zu begründen, das ist einfach nur ungerecht“, stellt Dr. Heinrich fest.
Lauterbachs Vergleiche „nicht zielführend“
Lauterbach hatte die Proteste und die Praxisschließungen als angesichts der akuten Krankheitswelle unpassend kritisiert und zugleich erklärt, die Ärztegehälter seien im internationalen Vergleich nur in der Schweiz höher. Außerdem sei genug Geld im System. Heinrich konterte: „Internationale Vergleiche, wie Lauterbach sie anstellt, sind da nicht zielführend, weil Deutschland traditionell ein solides und flächendeckendes ambulantes Gesundheitswesen hat. Während der Corona-Pandemie war dies im Übrigen auch der Garant dafür, dass die Krankenhäuser nicht wie in anderen Ländern überfüllt und überfordert waren“, so Dr. Heinrich weiter. „Ungerechterweise haben aber unsere Medizinischen Fachangestellten im Gegensatz zur Pflege und zu Teilen der Krankenhausverwaltung keinen Corona-Bonus erhalten.“
Die Menschen hätten dies – im Gegensatz zu Lauterbach – längst verstanden. Laut einer Repräsentativbefragung vom 27.Dezember 2023 (Civey) unterstützen 60 Prozent der Bevölkerung die aktuellen Praxisschließungen, so Heinrich.
Am 9. Januar endlich Taten folgen lassen
„Der Bundesgesundheitsminister sollte also dazu bereit sein, sich dem Thema Budgetierung und Unterfinanzierung zu stellen, sonst wird das Krisentreffen, das übrigens die Ärzteschaft von Lauterbach gefordert hat, nicht zielführend. Den vielen Ankündigungen der letzten Monate müssen nun endlich Taten folgen. Wir werden jedenfalls der Einladung des Ministers am 9. Januar 2024 folgen, haben aber eine klare Erwartung an konkrete Ergebnisse des Treffens. Nur für ein Selfie mit Minister Lauterbach kommt die Ärzteschaft nicht ins Bundesgesundheitsministerium“, bestätigt der Virchowbund-Vorsitzende.
Zu dem Treffen am 9. Januar 2024 sind laut Ärztenachrichtendienst der KBV-Chef Dr. Andreas Gassen, Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt, die Bundesvorsitzenden des Hausärztinnen- und Hausärzteverbandes, Prof. Nicola Buhlinger-Göpfarth und Dr. Markus Beier, der Vorstandsvorsitzenden des Spitzenverbands Fachärzte Deutschlands, Dr. Dirk Heinrich, der Präsident des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Dr. Michael Hubmann und auch die Vorstandsvorsitzende des Spitzenverbands Bund der Krankenkassen, Dr. Doris Pfeiffer, eingeladen.
Von Entbudgetierung nichts mehr zu hören
Kassenärztechef Gassen hatte am 28. Dezember 2023 ebenfalls deutlich auf Lauterbachs Vorwürfe reagiert: „Es ist populistisch und sachlich unangemessen, wenn der Minister den Protest der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen auf die Forderung nach mehr Geld reduziert und den Eindruck vermittelt, es handele sich um eine ungerechtfertigte Aktion von Besserverdienenden“. Bemerkenswert sei, dass offensichtlich die im Koalitionsvertrag fixierte Absicht, zunächst zumindest die Hausärzte zu entbudgetieren – etwas, was der Minister selbst vor kurzem noch für Anfang 2024 zugesagt habe – „offensichtlich nicht mehr gilt.“
Wust von Bürokratie und schlecht gemachte Digitalisierung
Gassen verteidigte die Praxisschließungen: „Die Aktionen der niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen sind mehr als berechtigt. Es sind die Rahmenbedingungen in der ambulanten Versorgung, die die Niedergelassenen zunehmend verzweifeln lassen: Sie ersticken an einem zunehmenden Wust an Bürokratie und baden die Folgen einer insgesamt schlecht gemachten Digitalisierung aus, für die sie auch noch abgestraft werden, obwohl sie die technischen Umsetzungen nicht zu verantworten haben.“
„2024 das Jahr der langen Wartezeiten“
Auch wenn es weder Politik noch gesetzliche Krankenkassen gerne hören wollten: Die Niedergelassenen erbrächten statistisch betrachtet ihre Leistungen und Behandlungen seit fast sechs Wochen mittlerweile umsonst, da die Budgets ausgeschöpft seien. „Dieser unheilvolle Zustand besteht bereits seit über 30 Jahren. Es geht also nicht um die Portemonnaies der Ärzte, sondern um die ambulante Versorgung der über 70 Millionen gesetzlich versicherten Menschen in Deutschland. Und sie funktioniert trotz Praxisschließungen ja immer noch, weil die niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen genau diese Versorgung der Menschen trotz aller Probleme immer im Blick haben. Doch das ist kein Selbstläufer, sondern das System der ambulanten Versorgung steht vor dem Kollaps – und damit die gesamte Gesundheitsversorgung in Deutschland. Wird den berechtigten Forderungen der Praxen nicht entsprochen, wird 2024 das Jahr der langen Wartezeiten werden.“
Protestmöglichkeiten der KBV begrenzt
In einem Interview zum Jahresende hatte Gassen gegenüber dem Ärztenachrichtendienst den Ideen aus der Ärzteschaft, die KBV könne sich an einer Art „Generalstreik“ beteiligen, allerdings einen Dämpfer verpasst. Die KBV könne den Druck „im Rahmen unserer Möglichkeiten“ aufrecht erhalten: „Denn Verweise auf Piloten, die einfach mal nicht fliegen, oder auf die Streiks der GDL unterliegen leider einer falschen Grundannahme: Selbständige Praxisinhaber und -inhaberinnen sind keine Angestellten, die ihren Arbeitgeber bestreiken können, und KVen sind keine Gewerkschaften. Deshalb können wir auch keinen flächendeckenden Ausstand organisieren. Und: Den Sicherstellungsauftrag einfach ‚zurückgeben‘ können wir auch nicht. Mit unserer Bundestagspetition und anderen politischen und medialen Aktionen sind wir schon weit gegangen – den letzten Schritt müssen die Niedergelassenen und am Ende die Patienten, die am Erhalt ihrer Versorgung interessiert sind, selbst tun, indem sie solche Maßnahmen aktiv unterstützen und selbst protestieren“, so Gassen.
Kein koordinierter „Generalstreik“ am 8. Januar 2024
Im Internet und in Social Media kursieren aktuell Aufrufe zu einem „Generalstreik“, angestoßen von den Protestaktionen der Bauern gegen die Sparmaßnahmen der Bundesregierung vor Weihnachten in Berlin. Diese hatten für den 8. Januar 2023 weitere Proteste angekündigt. Es wird zudem erwartet, dass auch die Gewerkschaft der Lokomotivführer (GDL) in ihrem Tarifstreit mit der Deutschen Bahn ab 8. Januar mit ihren angekündigten unbefristeten Streiks beginnen könnte. Auch aus der Ärzte- und Zahnärzteschaft gibt es Aufrufe zu einem solchen Streik oder einem Protestmarsch nach Berlin, auch wenn es bislang keine bundesweiten Pläne oder koordinierten Aktionen zu geben scheint. (MM)