Vor nunmehr elf Tagen beschloss der Bundestag das Krankenhausversorgungsverbesserungsgesetz, kurz KHVVG. Das ist jenes Gesetz aus dem überaus umfangreichen Gesetzesœuvre von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach, mit dem er sich wohl einen Platz als Revolutionär und Retter des deutschen Gesundheitssystems in den Geschichtsbüchern dieser Republik zu schaffen gedachte.
Das wäre dann in der Tat die Krönung einer gesundheitsökonomischen Karriere, die mit Blick auf diesen seltsamen Mix aus kurzzeitigem und primär drittmittelfinanziertem universitärem Schaffen und langjährigem SPD-Parteisoldatendaseins, nur wenige Highlights zu bieten hat, die der Erinnerung wert sind. Und das war jetzt die positive Formulierung.
Offene Baustellen im KHVVG
Die Wortwahl „Revolution“ für die allseits als dringend notwendig angesehene Umgestaltung des stationären Sektors stammt von Lauterbach höchstpersönlich und ist wohl dem tradierten Selbstverständnis der SPD geschuldet. Zu einer „Oktoberrevolution“ hat es dennoch nicht gereicht. Und das liegt weniger an dem knappen Abstimmungsergebnis im Bundestag – 373 Ja- Stimmen für das KHVVG bei 415 Abgeordneten der Ampelkoalition, was einer Zustimmung im Bundestag von 50,9 Prozent entspricht –, als an den offenen Baustellen, die für alle sichtbar in den vom Bundesgesundheitsministerium formulierten Regelungen des Gesetzes liegen. Mit Blick auf deren Sprengkraft könnte man auch von Bomben reden. Oder besser Blindgängern?
Nicht einmal die Finanzierung gesichert
Nun kann man die Wortwahl „Bomben“ für zu martialisch und somit in heutiger Zeit für deplatziert halten. Jedoch ein Gesetz auf den parlamentarischen Weg zu bringen, bei dem noch nicht einmal die Finanzierung gesichert ist, grenzt an Harakiri – nicht für den sich sicher im Parteisattel wähnenden Professor, sondern für die von einem Gesetz Betroffenen, welches nicht weniger als die dringend notwendige Reformierung der Krankenhausstrukturen in Deutschland zum Inhalt hat.
Sektorenübergreifende Versorgungseinrichtungen kommen
Nun könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass einem bei einer Tätigkeit im ambulanten System die Klinikreform egal sein könnte. Aber die finanziellen Auswirkungen von Lauterbachs Revolution werden die Friktionen im gesamten Versorgungssystem weiter ansteigen lassen. Insofern wird jeder Leistungserbringer über kurz oder lang negativ betroffen sein. Und Lauterbach wäre nicht Lauterbach, wenn seine Abneigung gegenüber dem bestehenden ambulanten System, insbesondere gegenüber den niedergelassenen Fachärzten, nicht auch in diesem Gesetz sichtbar würde. So sieht das KHVVG unter anderem die Öffnung der Krankenhäuser für fachärztliche ambulante Leistungen in sektorenübergreifenden Versorgungseinrichtungen vor. Und nein, es handelt sich hier nicht um die bekannte MVZ-Lösung für die Kliniken.
Verfassungswidriger Griff in die Taschen der Beitragszahler
Apropos Friktionen. Revolutionen kommen ja per definitionem nicht ohne solche aus, Reformen im Übrigen auch nicht. Letztlich spielen aber Finanzmittel immer eine entscheidende Rolle. Diesbezüglich hatte das Lager der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) Lauterbach mehrfach davor gewarnt, mittels verfassungswidriger Zweckentfremdung von GKV-Beitragsmitteln den 50 Milliarden Euro schweren Transformationsfonds für die Kliniken zu 50 Prozent zu finanzieren. In der Pressemeldung des BKK-Dachverbands heißt es dazu: „Es ist schlicht nicht hinnehmbar, dass angesichts der prekären Finanzlage der GKV im großen Umfang auf Beitragsmittel zurückgegriffen werden soll, um die Finanzierungsverpflichtungen der Länder zu erfüllen. Diesem verfassungswidrigen Griff in die Taschen der Beitragszahler werden wir nicht tatenlos zuschauen.“ Erklärt hat das Franz Knieps, Vorstandsvorsitzender des BKK-Dachverbands. Und der ist nun nicht irgendwer. „Er war als Abteilungsleiter im Bundesministerium für Gesundheit unter Ministerin Ulla Schmidt einer ihrer wichtigsten Berater, sozusagen die graue Eminenz und übte erheblichen Einfluss auf die Gesundheitspolitik von 2003 bis 2009 aus“, heißt es im Eintrag auf Wikipedia über ihn. Ältere Zahnärztevertreter werden sich noch an sein Wirken im BMG erinnern.
Volle Kraft zurück
Zu dieser Zeit war der sich damals noch mit bunten Fliegen schmückende Karl Lauterbach ebenfalls Berater der Ministerin. Seine Themen: Die Digitalisierung des Gesundheitswesen mittels Telematikinfrastruktur und der Umbau der Krankenhauslandschaft mittels eines Abrechnungs- und Fallzahlen-orientierten Steuerungssystems, deren Kernelement die Diagnosis Related Groups (DRGs) sind. Die Folgen der DRG-Systematik sollen nach rund 20 Jahren nun mittels Vorhaltepauschalen in Teilen wieder abgeschafft werden.
Mehr Fragen als Lösungen
Doch neben der hälftigen Finanzierung des Transformationsfonds mit 25 Milliarden Euro für zehn Jahre ab 2026 sieht das KHVVG unbeschwert weitere erheblich Mehrkosten für die GKV vor, wie seitens des Verbands der Ersatzkassen (vdek) beklagt wird. Deren Vorstandsvorsitzende Ulrike Elsner beklagt einen „Rückschritt in die Fehlsteuerungen der 1990er Jahre“ und zählt zusätzlich auf: vollständige Refinanzierung der Personalkostensteigerungen, geplante Steigerungen beim Orientierungswert, teilweise Rückkehr zum Selbstkostendeckungsprinzip zur Erstattung der Krankenhauskosten, Vorgabe von Personalbedarfszahlen.
Nicht zu Ende gedachte sektorenübergreifende Einrichtungen
Und weiter: „Nicht durchdacht sind ferner die Regelungen zu den sektorenübergreifenden Versorgungseinrichtungen, die auch in überversorgten Ballungsgebieten mit erheblichen Beitragsmitteln etabliert werden sollen. Die Förderung sollte gezielt nur in den strukturschwachen ländlichen Regionen erfolgen. Auch die gesetzlich vorgegebene Ausweitung des Hybrid-DRG-Katalogs wirft Fragen auf.“
Widersprüchlicher Appell an den Bundesrat
In der Kritik an „den enormen Umsetzungskosten“ zeigen sich die Spitzenorganisationen der GKV-Kassen weitgehend einig. Dennoch formuliert der GKV-Spitzenverband: „Unser Appell an den Bundesrat lautet, jetzt den Weg für das KHVVG freizumachen, damit wir mit den Umstrukturierungen der Krankenhauslandschaft beginnen können“, so die stellvertretenden Vorstandsvorsitzende des GKV-Spitzenverbands, Stefanie Stoff-Ahnis. Und weiter: „Wir brauchen jetzt Veränderungen, um die Versorgung der Patientinnen und Patienten zu verbessern und auch die Bedingungen für die Krankenhäuser selbst. Eine Blockade durch den Bundesrat kann sich das System nicht mehr leisten“.
Die Widersprüchlichkeit ist geradezu mit Händen zu greifen. Halten wir fest: Wenn das vom BKK-Dachverband in Auftrag gegebene Gutachten zur Verfassungsmäßigkeit der Verwendung von Beitragsmitteln für den Transformationsfond – 25 Milliarden Euro – zum Ergebnis kommt, dass dieses Vorgehen nicht verfassungsmäßig ist, wie muss dann ein Vorstand handeln?
Auch das GVSG wird Geld kosten
Schließlich stecken ja noch weitere Gesetze in Lauterbachs Gesetzespipeline, welche für die Solidargemeinschaft – sagen wir mal so – „finanziell fordernd werden“. Denn das für die kommenden Monate geplante Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GSVG) wird aufgrund der vorgesehenen Entbudgetierung der Hausärzte ebenfalls nicht kostenneutral ausfallen können. Zudem veröffentlichte in der vergangenen Woche der GKV-Schätzerkreis seine aktuelle Prognose für die Entwicklung der GKV-Finanzen, was maßgebend für die Höhe des Beitragssatzes ist. Für 2025 rechnen deren Experten mit einer Finanzierungslücke in Höhe von 13,8 Milliarden Euro, was mit einer Steigerung des durchschnittlichen Zusatzbeitragssatzes von 0,8 Prozentpunkten auf 2,5 Prozent einhergehen wird.
Krankenkassen als politische Dukatenesel
Für die gesetzlichen Kassen wird es somit finanziell noch enger werden, allzumal die sogenannten negativen Konjunktureffekte gegen den steigenden Versorgungsbedarf und die Innovationskomponente laufen, wie eine ebenfalls Mitte Oktober von Deloitte veröffentlichte Untersuchung darlegte. Man muss kein Augur sein, um zu erkennen, dass die von Lauterbach prognostizierten Einspareffekte seiner Reformen bei weitem nicht an deren gleichzeitig verursachte Kosten heranreichen werden, ganz zu schweigen von deren Timing. Die Frage wird sein, wann die von ihm als Dukatenesel eingespannten – um nicht zu sagen missbrauchten – Krankenkassen vor Auszehrung umfallen werden
Dr. Uwe Axel Richter zu Gast bei „Dental Minds“
Die Gesundheitspolitik begleitet den Mediziner und Fachjournalisten schon seit Jahrzehnten, auch in der ärztlichen und zahnärztlichen Standespolitik ist er zuhause: Dr. Uwe Axel Richter. Für „Quintessence News“ nimmt er in seiner Kolumne alle 14 Tage aktuelle politische Themen kritisch unter die Lupe. Jetzt ist er zu Gast bei „Dental Minds“ und schaut mit Dr. Marion Marschall und Dr. Karl-Heinz Schnieder auf das, was sich in Gesundheits- und Standespolitik bewegt – oder auch nicht.
Vom gesundheitsreformerischen Dauerfeuer des amtierenden Bundesgesundheitsministers mit Krankenhausreform und mehr über die Möglichkeiten und Grenzen der zahnärztlichen Standespolitik bis zur AS Akademie, der Akademie für freiberufliche Selbstverwaltung und Praxismanagement in Berlin, erklärt und beleuchtet Richter im Gespräch die aktuellen Themen. Hier geht es zum Podcast.
Doch zurück zu den Bundesländern, die Lauterbach so gerne bei seinem Gesetz außen vor gelassen hätte. Derzeit haben sechs Länder (Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen) deutlich gemacht, dass sie den Vermittlungsausschuss anrufen wollen. Die Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz, Kerstin von der Decken aus Schleswig-Holstein, bewertete die Sachlage so: „Wir brauchen eine Reform, aber eine gute. Die haben wir bisher nicht. Ich stelle fest, dass die wesentlichen Forderungen der Länder nicht erfüllt sind“. Einer der von ihr genannten Gründe: Es fehle eine auskömmliche Übergangsfinanzierung, bis die Reform greife. Bis voraussichtlich zum 22. November muss der Beschluss im Bundesrat fallen, ob der Vermittlungsausschuss angerufen werden wird.
Erst entscheiden, dann simulieren
Es ist schlimm genug, wenn ein Gesetz vom Bundestag verabschiedet wird, bei dem die Auswirkungen seitens der Bundesländer noch nicht einmal abgeschätzt werden konnten. So stand zum Zeitpunkt der Zustimmung zum KHVVG im Bundestag noch nicht einmal das Simulationsmodell zur Analyse der Auswirkungen der Reform den betroffenen Bundesländern zur Verfügung. Was auch leider für die finanziellen Auswirkungen des KHVVG gilt.
Es wird gnädige Gerichte brauchen
So oder so kommt man nicht umhin festzuhalten, dass dieses Gesetz von Finanzautisten auf den Weg gebracht und durchgesetzt werden konnte. Hier wurde und wird sehenden Auges der Erfolg, also eine geordnet ablaufende Strukturreform des stationären Sektors, aufgrund der ungeklärten finanziellen Situation riskiert. Dass Finanzminister Christian Lindner Lauterbach respektive den Kassen zur Hilfe eilen wird, kann man getrost ausschließen. Aber vielleicht zeigen sich ja die Gerichte gnädig.
Was man nicht wird ausschließen können, sind finanzielle Kollateralschäden beim GVSG. Und die werden umso wahrscheinlicher, je länger die Hängepartie bis zum endgültigen Verabschieden des KHVVG andauern wird.
Die Moral der Geschichte
Zum Abschluss die Moral von der Geschichte in drei Zitaten: Der Säulenheilige der französischen Sozialisten, Jean Jaurès, hat bereits zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts gesagt: „Es ist die Reform, die revolutionär ist“. Und Olof Palme, ehemaliger schwedischer Ministerpräsident und Ikone der weltweiten Sozialdemokratie, führte diesbezüglich vor 50 Jahren aus: „Die Revolution löst nichts. Am Morgen danach beginnt wieder der mühsame Alltag der Probleme“. Abschließend der geniale Slogan aus dem Wahlkampf von Bill Clinton vor 32 Jahren, als Demokrat ebenfalls dem linken politischen Spektrum zuzuordnen: „It‘s the economy, stupid“.
Es wie immer, und doch immer wieder neu
Und wer nun immer noch nicht genug von Lauterbach hat, sehe sich seine revolutionäre Rede im Bundestag vor Verabschiedung des KHVVG an. Ob man dafür „Viel Vergnügen“ wünschen sollte?
Dr. Uwe Axel Richter, Fahrdorf
Dr. med. Uwe Axel Richter (Jahrgang 1961) hat Medizin in Köln und Hamburg studiert. Sein Weg in die Medienwelt startete beim „Hamburger Abendblatt“, danach ging es in die Fachpublizistik. Er sammelte seine publizistischen Erfahrungen als Blattmacher, Ressortleiter, stellvertretender Chefredakteur und Chefredakteur ebenso wie als Herausgeber, Verleger und Geschäftsführer. Zuletzt als Chefredakteur der „Zahnärztlichen Mitteilungen“ in Berlin tätig, verfolgt er nun aus dem hohen Norden die Entwicklungen im deutschen Gesundheitswesen – gewohnt kritisch und bisweilen bissig. Kontakt zum Autor unter uweaxel.richter@gmx.net.