Mehr Studienplätze, eine neue Approbationsordnung, Kommerzialisierung und Fremdinvestoren und nicht zuletzt die Gebührenordnung für Ärzte – der 126. Deutsche Ärztetag hat bei seinen Beratungen vom 24. bis 27. Mai 2022 in Bremen viele Themen diskutiert und eine Reihe von gesundheits-, sozial- und berufspolitischen Beschlüssen gefasst. Vieles beschäftigt auch die Zahnärzteschaft – eine Auswahl aus den Diskussionen und Beschlüssen.
Schon der Auftakt hatte in sich: Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach bekam zum Grußwort die von Bundesärztekammer, PKV-Verband und Beihilfe erarbeitete Neufassung der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) als dickes gebundenes Buch überreicht – mit dem klaren Wunsch, endlich tätig zu werden. Einen Wunsch, den der Minister ausweichend beantwortete. Ärzteschaft und PKV wollen die neuen Leistungsbeschreibungen und Vergütungen jetzt jedenfalls in der Praxis erproben.
Opt-out für die ePA
Auch die Digitalisierung und das leidige Thema Telematikinfrastruktur wurden diskutiert. So präferiert die Ärzteschaft erneut ein Opt-out-Verfahren bei der elektronischen Patientenakte (ePA): Die gesetzlichen Krankenkassen sind zwar seit Januar 2021 verpflichtet, ihren Versicherten eine ePA anzubieten, die Nachfrage hält sich jedoch in Grenzen. Aktuell besitzen bundesweit rund 480.000 Patientinnen und Patienten eine ePA (Stand: 26.05.2022). Mit der Opt-Out-Lösung würden die Krankenkassen ihren Patienten eine ePA ohne ihr Zutun einrichten – es sei denn, sie widersprechen der Aktenanlage.
Perspektivisch könnten Ärztinnen und Ärzte mit dem Opt-Out-Verfahren davon ausgehen, dass die allermeisten ihrer Patientinnen und Patienten im Besitz einer ePA seien. Aufwendige Nachfragen und Aufklärungen über den Sinn der ePA würden hinfällig, so die Abgeordneten. Sie sprachen sich dafür aus, dass statt der bisher vorgesehenen expliziten Datenfreigabe für jeden Arzt alle an der Behandlung beteiligten Ärzte zunächst vollen Zugriff auf die Daten in der ePA erhalten sollten – es sei denn, der Patient schränkt die Zugriffsrechte explizit ein. Auch die Freigabe der Daten für medizinische Forschungszwecke solle einfacher werden.
Sorgen wegen fehlenden Nachwuchses
„Wir stehen in Kliniken und Praxen vor einer enormen Ruhestandswelle unter Ärztinnen und Ärzten. Die Bundesländer müssen umgehend rund 6.000 zusätzliche Medizinstudienplätze schaffen, um diesen Wegfall zu kompensieren. Gleichzeitig muss die Finanzierung unserer Kliniken, die Planung der Krankenhauslandschaft und die Zusammenarbeit von Praxen, Kliniken und anderen Einrichtungen des Gesundheitswesens vollkommen neu gestaltet und enger vernetzt werden“, sagte Bundesärztekammerpräsident Dr. Klaus Reinhardt in seiner Eröffnungsrede.
Es gibt in Deutschland zu wenig junge Medizinerinnen und Mediziner, denn in den kommenden Jahren werden weitere zahlenmäßig starke Jahrgänge aus dem Arztberuf altersbedingt ausscheiden, bei einem gleichzeitig steigenden medizinischen Versorgungsbedarf aufgrund der alternden Bevölkerung. Der Präsident der Bundesärztekammer und die Teilnehmer des Deutschen Ärztetags in Bremen forderten daher eine Reihe von Maßnahmen, um mehr Ärztenachwuchs in besserer Qualität auszubilden und die Möglichkeiten für die Berufsausübung zu verbessern. Nötig seien vor allem mehr Studienplätze in der Humanmedizin an staatlichen Universitäten.
Aufgabe nicht auf private Anbieter schieben
Bund und Länder müssten künftig eine ärztliche Ausbildung sicherstellen, die wissenschaftlich und didaktisch hochwertig ist. Diese Ausbildung solle an den staatlichen Hochschulen und Universitäten angeboten werden, so die Delegierten in Reaktion auf die steigende Zahl privater Hochschulen, die kostenpflichtige private Studiengänge in der Medizin anbieten. Die Länder förderten diese privaten Unis aus eigenem finanziellem Interesse, kritisierte der Ärztetag: „Der private Sektor kann Bund und Länder nicht von ihrer Verantwortung entbinden, selbst ausreichend Medizinstudienplätze bereitzustellen“.
Novellierung der Approbationsordnung, besseres PJ
Außerdem müsse die Approbationsordnung schnellstens novelliert werden und das Studium an die aktuellen Herausforderungen der medizinischen Versorgung angepasst werden. Die Abgeordneten des Ärztetages forderten zudem die Klinikleitungen auf, die Qualität des Praktischen Jahres (PJ) zu priorisieren. In diesem Zusammenhang dürften Medizinstudierende im PJ nicht mit pflegerischen, sondern mit ärztlichen Aufgaben betraut werden. Auch müssten diese eine einheitliche angemessene Aufwandsentschädigung erhalten.
MVZ-Zulassung verschärfen
Einen breiten Raum nahm das Thema Kommerzialisierungsdruck in der Medizin ein. Dazu wurde ein Maßnahmenkatalog für die ambulante und stationäre Versorgung beschlossen. Darin fordert die Ärzteschaft unter anderem, die Gründung von Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) durch Krankenhäuser an einen fachlichen, räumlichen und regionalen Bezug zu deren Versorgungsauftrag zu koppeln. „Ärztliche Entscheidungen dürfen nicht zulasten der medizinischen Indikation und Versorgungssicherheit von wirtschaftlichen Vorgaben beeinflusst werden“, stellt der Deutsche Ärztetag klar. Daher seien explizite, sanktionsbewehrte Regelungen notwendig, nach denen die Träger gewährleisten müssen, dass die bei ihnen tätigen Ärztinnen und Ärzte ihre berufsrechtlichen Vorgaben einhalten können.
Aufkauf durch Private Equity stoppen
In einem weiteren Beschluss forderte der Ärztetag den Gesetzgeber dazu auf, dem fortschreitenden Aufkauf des ambulanten medizinischen Sektors durch Private Equity und börsennotierte Aktienunternehmen Einhalt zu gebieten. „Bisherige Gesetzesänderungen verhindern nicht, dass zunehmend aus dem Solidarsystem gespeiste Ressourcen der gesundheitlichen Daseinsvorsorge zu den Shareholdern abfließen und nicht sichergestellt ist, dass die Gewinne in Deutschland versteuert werden“, kritisierten die Abgeordneten. Für mehr Transparenz für Patientinnen und Patienten würde nach Auffassung des Ärztetags ein öffentliches und frei zugängiges MVZ-Register sorgen. Zusätzlich sollten die MVZ dazu verpflichtet werden, die Trägerschaft auf dem Praxisschild auszuweisen.
Weniger Zeit für Dokumentation, mehr für die Patienten
An die Klinikleitungen adressierte der Deutsche Ärztetag die Forderung, den ökonomischen Druck auf die Ärzteschaft sowie bürokratische Aufgaben zu reduzieren. Ökonomische Überlegungen dürften sich nicht auf die Qualität der Patientenversorgung auswirken, stellte das Ärzteparlament klar. Ärztinnen und Ärzten müsse mehr Zeit für die Gesundheitsversorgung bleiben. „Auf Dokumentationsaufgaben und Arztbriefe wird deutlich mehr Arbeitszeit verwendet, als auf den direkten Patientenkontakt und die Befundrecherchen. Dass die Patientenbehandlung deswegen häufig zu kurz kommt, belastet viele Ärztinnen und Ärzte, gerade weil die Fehleranfälligkeit unter Zeitdruck steigt“, heißt es in dem Beschluss. In Kombination mit der chronisch zu hohen Wochenarbeitszeit senke dies nachhaltig die Attraktivität des Arztberufes.
Gefordert wurden zugleich grundlegende Krankenhausreformen, bei der Bund und Länder zusammenarbeiten und sich am Bedarf und an den Patienten orientieren müssten. Krankenhausplanung und Finanzierung seien Aufgaben der Daseinsvorsorge. Strukturqualität der Kliniken und der Personalausstattung hätten dabei eine zentrale Rolle.
Ärzteschaft fordert Gesamtkonzept zur Notfallversorgung
Der 126. Deutsche Ärztetag hat sich gegen die Pläne des Gesetzgebers gewandt, statt einer umfänglichen Reform der Notfallversorgung zunächst eine verpflichtende, standardisierte Ersteinschätzung einzuführen. Das Ärzteparlament appellierte an die Bundesregierung, den Auftrag an den Gemeinsamen Bundesausschuss auszusetzen, Kriterien für ein solches Ersteinschätzungsverfahren zu beschließen.
Zunächst müsse geklärt werden, wie die unterschiedlichen Versorgungsebenen in der ambulanten Notfallversorgung vernetzt werden sollen und welches Leistungsspektrum sie aufweisen, heißt es in dem aktuellen Beschluss. Vorher und losgelöst von einem Gesamtkonzept sei die Etablierung eines neuen Ersteinschätzungssystems zur Patientensteuerung nicht sinnvoll.
Ernährung umstellen, Gesundheit und Umwelt schützen
Eine gemeinsame Wende in der Ernährungs- und Landwirtschaftspolitik wurde in Bremen erneut gefordert. Sowohl Politik, Verbraucher, Erzeuger und Handel werden aufgefordert, daran mitzuwirken. Der Fleischkonsum müssten deutlich reduziert werden, betonten die Abgeordneten. Dies wirke sich positiv auf die Gesundheit aus, leiste einen relevanten Beitrag zur Reduktion von Treibhausgasen und trage zu einer Verbesserung der Nahrungsressourcen ärmerer Länder bei.
Erneut forderten die Delegierten auch höhere Steuern, ein Werbeverbot und strengere Zugangsregelungen für legale Suchtmittel wie Alkohol und Tabakerzeugnisse. Zugleich sollten die Suchthilfeangebote solide finanziert und leicht zugänglich sein. Die Suchtmedizin müsse im Studium als Querschnittsfach stärker gewichtet und interdisziplinär verankert werden
Gesundheitskompetenz an Schulen fördern
Die Länder wurden dazu aufgerufen, ein eigenständiges Schulfach „Gesundheit und Nachhaltigkeit“ einzuführen. Eine frühe und gezielte Bildung werde dazu beitragen, eine Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung zu fördern und die Gesundheit des Einzelnen, jedoch auch der gesamten Bevölkerung nachhaltig zu sichern – insbesondere mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen wie Klimakrise und demografischer Wandel. Darüber hinaus seien Schulen zu gesunden und nachhaltigen Lebensräumen umzugestalten.
Forschung über Medienkonsum bei Kindern fördern
Kritisch sehen die Delegierten den zunehmenden Medienkonsum durch Kinder und Jugendliche. Sie können durch unkontrollierten und übermäßigen Gebrauch digitaler Bildschirmmedien in ihrer intellektuellen, sensomotorischen und psychosozialen Entwicklung beeinträchtigt werden. Die Auswirkungen auf die schulische Bildung und den Arbeitsmarkt können dramatisch sein und werden bislang kaum diskutiert. Der 126. Deutsche Ärztetag appelliert deshalb an die Bundesregierung, die Forschung zu den Auswirkungen der übermäßigen Nutzung von Bildschirmmedien im Kindes- und Jugendalter finanziell zu fördern.
Außerdem sollten bei weiteren Pandemiemaßnahmen die Belange der Kinder und Jugendlichen stärker berücksichtigt werden. Sie hätten durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie oft besonders in ihrer Entwicklung gelitten, ihre Interessen seien zu wenig berücksichtig worden.
Zentren für seltene Erkrankungen, Paragraf 219a
Zur besseren Versorgung von Patienten mit seltenen Erkrankungen sollen bundesweit entsprechende Fachzentren etabliert und dauerhaft von den Kostenträgern finanziert werden. Die Zentren würden den Betroffenen eine zielgerichtete Diagnostik und Therapie durch speziell geschulte Kolleginnen und Kollegen ermöglichen. Die Zentren sind zudem für die Aus-, Fort- und Weiterbildung sowie die Forschung von Bedeutung. In Deutschland leben ca. vier Millionen Menschen mit seltenen Erkrankungen. Die Mehrheit ist bereits im Kindes- und Jugendalter von entsprechenden Symptomen betroffen. Trotzdem dauert es häufig mehrere Jahre, bis die richtige Diagnose gestellt werden kann.
Außerdem sprachen sich die Delegierten dafür aus, das im Paragrafen 219a Strafgesetzbuch festgehaltene „Werbeverbot“ für Schwangerschaftsabbrüche zu streichen, und begrüßten entsprechende Vorschläge des Bundesjustizministers.
Klare Positionierung zum Ukraine-Krieg
Der 126. Deutsche Ärztetag 2022 verurteilte den Angriffskrieg auf die Ukraine und fordert Russland auf, die Kampfhandlungen sofort einzustellen. „Wir sind als Healthcare Professionals verpflichtet, Krankheiten zu behandeln, Leben zu retten und Schaden für die Gesundheit abzuwenden. Krieg ist die größtmögliche akute Gefahr für Leib und Leben und die Gesundheit aller Beteiligten, besonders der Zivilbevölkerung“, betonte der Ärztetag.
Weitere Diskussionen und Beschlüsse gab es zu einem Zentralen Meldesysteme für Angriffe gegen medizinisches Personal, zur Bereitstellung von Übersetzungsdiensten für die adäquate Kommunikation mit Patienten, die der deutschen Sprache nicht oder nicht ausreichend mächtig seien, die Ausgestaltung eines Triagegesetzes, die alternde Bevölkerung, Investitionshilfen für die Klimaneutralität auch im medizinischen Bereich und das Impfen als ärztliche Aufgabe sowie das Errichten eines Impfregisters als Konsequenz aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie.
Gendersensible Sprache in den Spitzengremien
Eine heftige Diskussion entbrannte beim Thema gendergerechter Sprache in den Spitzenorganisationen der ärztlichen Selbstverwaltung und deren Hauptversammlungen, die mehrheitlich beschlossen wurde (mehr dazu im Bericht des Deutschen Ärzteblatts). Mehr zu den Beschlüssen des 126. Deutschen Ärztetags und die Rede des BÄK-Präsidenten auf der Eröffnungsveranstaltung auf der Internetseite der BÄK. Weitere Berichte auch auf der Themenseite des Deutschen Ärzteblatts, das von der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung herausgegeben wird.