Die menschliche Blutgerinnung beruht auf einem komplexen Zusammenspiel thrombozytärer und plasmatischer Faktoren. Durch eine Vielzahl unterschiedlicher pharmakologischer Wirkstoffe kann in den physiologischen Ablauf der Blutgerinnung eingegriffen werden. Indikationen für den Einsatz von Gerinnungshemmern (Antithrombotika) bestehen insbesondere bei Vorhofflimmern und nach thromboembolischen Ereignissen. Die wichtigsten Arzneimittelgruppen sind die Thrombozytenaggregationshemmer (TAH), die Vitamin-K-Antagonisten (VKA) und die neuen direkten oralen Antikoagulanzien (DOAK, seltener NOAK). In der Oralchirurgie sollten die TAH präoperativ nicht abgesetzt werden. Die VKA erfordern ein sehr individuelles Patientenmanagement, werden aber zukünftig aufgrund der rückläufigen Verordnungszahlen eine immer geringere Rolle spielen. Im Gegensatz zu den VKA haben die DOAK sehr kurze Halbwertszeiten, die dem Behandler eine deutlich verbesserte Planungssicherheit geben.
PD Dr. Frank Halling beschreibt in seinem Beitrag für die Implantologie 2/2022 die Pharmakologie der verschiedenen Medikamente und die klinischen Konsequenzen in der zahnärztlichen Praxis. Wie bei allen oralchirurgischen Eingriffen sind auch in der Implantologie bei Patienten mit Gerinnungshemmern eine genaue Anamnese, eine sorgfältige Risikostratifizierung und ein subtiles perioperatives Blutungsmanagement erforderlich. Da Implantationen und Patienten mit gerinnungshemmenden Medikamenten gleichermaßen Teil des zahnmedizinischen Alltags sind, ist es wichtig, bei der Behandlung die richtigen Maßnahmen zu beachten.
In keiner anderen Disziplin der Zahnmedizin schreitet die Entwicklung so schnell voran wie in der Implantologie. Ziel der Zeitschrift ist es, dem Fortbildungsangebot im Bereich der Implantologie durch die Veröffentlichung praxisbezogener und wissenschaftlich untermauerter Beiträge neue und interessante Impulse zu geben und die Zusammenarbeit von Klinikern, Praktikern und Zahntechnikern zu fördern. Mehr Infos zur Zeitschrift, zum Abo und zum Bestellen eines kostenlosen Probehefts finden Sie im Quintessenz-Shop.
Einleitung
In der zahnärztlichen Praxis ist der Umgang mit Patienten, die Gerinnungshemmer einnehmen, mittlerweile ein alltägliches Problem. Klassische Indikationen für eine meist langfristige Einnahme von Gerinnungshemmern sind Vorhofflimmern, die tiefe Beinvenenthrombose, die koronare Herzkrankheit oder der Zustand nach Herzklappenersatz1,2. Zudem werden Blutverdünner zur Prophylaxe thrombembolischer Ereignisse, zum Beispiel nach Herzinfarkt oder Apoplex, eingesetzt3,4. Allein Vorhofflimmern als häufigste Herzrhythmusstörung im Erwachsenenalter tritt bei etwa 1,6 Millionen Menschen in Deutschland auf5. Derzeit nehmen geschätzt etwa eine Million Menschen in Deutschland gerinnungshemmende Substanzen ein6; in der Altersgruppe ab 65 Jahre ist es jeder 20. Patient7. Eine klinische Studie bei über 60-jährigen Mund-Kiefer-Gesichts(MKG)-chirurgischen Patienten ergab, dass 47 Prozent der Patienten mit Blutverdünnern behandelt werden8. Um die Funktion und die Nebenwirkungen der Gerinnungshemmer besser zu verstehen, ist zunächst eine kurze Abhandlung der „normalen“ Blutgerinnung erforderlich.
Physiologie der Blutgerinnung
Blut besteht aus Blutplasma (Blutserum und Fibrinogen), den Blutkörperchen (Erythro- und Leukozyten) sowie den Blutplättchen (Thrombozyten). Eine der vielen Aufgaben des Blutes ist die Hämostase, durch die bei Verletzungen der Blutgefäße entstehende Blutungen zum Stillstand gebracht werden. Die Blutstillung läuft auf mehreren Ebenen als eine komplexe Interaktion von Gerinnungsfaktoren und Thrombozyten ab (Abb. 1).
Bei der primären zellulären Hämostase kommt es zu einer Gefäßverengung an der verletzten Stelle. Blut kommt mit freiliegenden Kollagenfasern in der Gefäßwand in Berührung und Thrombozyten haften zuerst an diesen Fasern an (Thrombozytenadhäsion), was zur Ausbildung einer dünnen Bedeckung der Wunde führt. Durch die Adhäsion werden aggregationsfördernde Substanzen (zum Beispiel Adenosindiphosphat, ADP) freigesetzt und weitere Thrombozyten angelockt (Chemotaxis). Die Thrombozyten bilden zum einen durch ihre Zusammenballung den weißen Thrombus, zum anderen liefern sie bei ihrem Zerfall einen Faktor (Thrombozytenfaktor 3: TF3), der für das sekundäre, plasmatische Gerinnungssystem beziehungsweise die Aktivierung der Thrombokinase (Faktor X) notwendig ist. Bei größeren Gewebeverletzungen wird die schnell ablaufende exogene Gerinnungskaskade durch das membranständige Gewebethromboplastin (Faktor III) aktiviert9. Dieser Stoff aktiviert einen Gerinnungsfaktor. Der aktivierte Faktor aktiviert den nächsten Faktor und so fort. Am Ende der Gerinnungskaskade steht durch Einwirken des aktiven Faktors Thrombin (Faktor IIa) die Bildung von Fibrin, was einem Blutgerinnsel entspricht. Das endogene System wird durch die Endothelläsion hingegen erst nach einigen Minuten aktiviert und verläuft kaskadenartig. Das exogene und das endogene System sind durch die Aktivierung des Faktors X miteinander verknüpft. Bei der sekundären Hämostase wird der Plättchenthrombus durch Vernetzung von Fibrin verstärkt und fixiert. Hierbei werden Erythrozyten in den Thrombus eingebaut, sodass man dann von einem roten Thrombus spricht10. Nach dem Verschluss wird das Fibrin bei der endgültigen Wundheilung wieder abgebaut (Fibrinolyse).
Schäden an den Gefäßwänden oder angeborene Störungen der Blutgerinnung können dieses ausgeklügelte Gleichgewicht von Blutfluss und Blutgerinnung beeinträchtigen. Dann drohen Thrombosen. Eine Thrombose ist ein pathologischer Zustand, der im venösen Schenkel durch Koagulation des Plasmas unter geringer Beteiligung der Thrombozyten und im arteriellen Schenkel in Verbindung mit Atherosklerose und einem großen Anteil an Blutplättchen abläuft. Ein Thrombus kann mit dem Blut weggespült werden und dann die Blutzufuhr zur Lunge (Lungenembolie) oder die Herzkranzgefäße (Herzinfarkt) verstopfen. In diese Abläufe kann mit Antithrombotika (Thrombozytenaggregationshemmern und Antikoagulanzien) eingegriffen werden. Insgesamt erfolgten 2019 in Deutschland 24,35 Millionen Verordnungen von Antithrombotika11.
Allgemeines Blutungsrisiko in der zahnärztlichen Chirurgie
Störungen der Blutgerinnung können schon bei Routineeingriffen (zum Beispiel Extraktion eines Zahns) zu starken Nachblutungen führen und sind deshalb von erheblicher Bedeutung für Patient und Behandler. Unter normalen Umständen ist das Nachblutungsrisiko nach oralchirurgischen Eingriffen sehr gering. Daten eines Kollektivs gesunder Patienten aus einer Kölner Klinik ergaben ein Blutungsrisiko nach oralchirurgischen Eingriffen von 0,4 Prozent12. In einer aktuellen Studie, in der ein bis drei Zähne extrahiert wurden, lag die Häufigkeit bei 2,9 Prozent13. Die Rate postoperativer Blutungen bei der Entfernung von Weisheitszähnen wird mit 0,2 bis 1,4 Prozent angegeben14,15.
Übersicht über zahnärztlich relevante TAH
Thrombozytenaggregationshemmer (TAH) lagen in den vergangenen Jahren mit konstanten Verordnungszahlen von ca. 900 Millionen definierten Tagesdosen (DDD) pro Jahr deutlich vor den Vitamin-K-Antagonisten (VKA) und direkten neuen oralen Antikoagulanzien (DOAK) (Abb. 2). Typische Indikationen sind Vorhofflimmern, Thromboseprophylaxe, tiefe Beinvenenthrombose, Lungenembolien, akutes Koronarsyndrom und der temporäre Einsatz nach Stentimplantation16.
Der bekannteste Wirkstoff aus dieser Gruppe ist die Acetylsalicylsäure (ASS). ASS löst bereits ab 50 mg Tagesdosis eine Thrombozytenaggregationshemmung durch eine irreversible Hemmung der thrombozytären Cyclooxygenase-1 aus und hat eine mit der Überlebenszeit der Thrombozyten (7–11 Tage) analoge Wirkdauer16,17 (Tab. 1). Neuere TAH sind die irreversiblen ADP-P2Y12-Rezeptorantagonisten Clopidogrel und Prasugrel sowie das reversibel wirksame Ticagrelor (Tab. 1). Zumeist werden ADP-Antagonisten in Kombination mit ASS (sogenannter dualer Plättchenhemmung) eingesetzt, zum Beispiel nach akutem Koronarsyndrom oder der Implantation koronarer Stents16. Glycoprotein-IIb-/IIIa-Rezeptorantagonisten (GPIIb-/IIIa-Antagonisten; zum Beispiel Tirofiban) werden fast nur periinterventionell bei akutem Koronarsyndrom im stationären Bereich verwendet und haben für den niedergelassenen Zahnarzt keine Bedeutung. Eine Substitution der TAH durch andere Substanzen (Heparin) ist nicht möglich.
Übersicht über zahnärztlich relevante Antikoagulanzien
Seit 2010 sind die Verordnungen für orale Antikoagulanzien auf fast das Doppelte gestiegen; die Kosten lagen 2019 bei über zwei Milliarden Euro16. Antikoagulanzien hemmen die sekundäre plasmatische Gerinnung. Im Wesentlichen bestehen drei unterschiedliche Arzneimittelgruppen:
- Vitamin-K-Antagonisten (VKA)
- Arzneimittel mit Wirkung auf den Faktor-X-Komplex
- Inhibitoren des Thrombins (Faktor II).
Phenprocoumon (zum Beispiel Marcumar, MEDA Pharma; Falithrom, Rovi), ein VKA, war in Deutschland jahrzehntelang das gebräuchlichste Antikoagulans. In den USA wird dagegen bevorzugt Warfarin (Coumadin, BMS, München) eingesetzt. Vitamin K ist in der Leber an der Synthese der Gerinnungsfaktoren II, VII, IX und X beteiligt. VKA erfordern eine engmaschige Überwachung des Patienten, da sie ein relativ schmales therapeutisches Fenster haben. Die erforderliche Dosis variiert inter- und intraindividuell, unter anderem in Abhängigkeit von der Ernährung und der Einnahme anderer Arzneimittel. Am Faktor-X-Komplex wirken die hochmolekularen, unfraktionierten Heparine (UFH) über die Wirkungsverstärkung von Antithrombin III und die niedermolekularen Heparine (NMH) (zum Beispiel Clexane, EurimPharm, Saaldorf-Surheim; Arixtra,Viatris Healthcare) durch die direkte Hemmung des aktivierten Faktors X9,18. Sie werden alle subkutan appliziert.
Mit den sogenannten direkten neuen oralen Antikoagulanzien (DOAK) setzte sich ab 2008 eine oral applizierbare Arzneimittelgruppe auf dem Markt durch, mit der im Falle von Dabigatran (Pradaxa, Boehringer) gezielt die Protease Thrombin (Faktor II) und im Falle der „Xabane“ Rivaroxaban (Xarelto, CC Pharma), Apixaban (Eliquis, BMS/Pfizer) und Edoxaban (Lixiana, Daiichi Sankyo Deutschland) der Faktor Xa inhibiert wird (s. Abb. 1 und Tab. 2)18,20. Der Anteil der DOAK an den Verordnungen aller oralen Antikoagulanzien ist mittlerweile fast dreimal so groß wie der Anteil der VKA (Abb. 2). Allein 2019 stiegen die Verordnungen der DOAK um 18 Prozent gegenüber dem Vorjahr16. Das Indikationsspektrum entspricht mittlerweile vollständig demjenigen der VKA, lediglich bei künstlichen Herzklappen fehlt noch die klinische Zulassung. DOAK sind alle dadurch gekennzeichnet, dass sie keines klinischen Monitorings bedürfen und ihr Einnahmeschema für die Patienten einfacher ist18. Beispielsweise ähnelt die Pharmakokinetik von Rivaroxaban den niedermolekularen Heparinen (hier Enoxaparin). Das Wirkmaximum ist bereits nach 2–4 Stunden erreicht und nach 18–24 Stunden ist die Wirkung nur noch gering19 (Abb. 3).
Blutungsrisiko in der zahnärztlichen Chirurgie bei Therapie mit TAH, VKA und DOAK
90 Prozent der pathologischen Blutungen haben ihre Ursache in erworbenen, zumeist medikamentös verursachten Störungen, indem Medikamente entweder mit den Thrombozyten (TAH) oder der plasmatischen Gerinnung (VKA und DOAK) interagieren9,10,18. Zum Risiko postoperativer Blutungen unter antithrombotischer Therapie gibt es mittlerweile einige, allerdings sehr heterogene Daten. Dieses Risiko wird durch den Umfang des zahnärztlich-chirurgischen Eingriffs mitbestimmt13,21. Im Allgemeinen werden oralchirurgische Eingriffe als Maßnahmen mit niedrigem oder geringem Blutungsrisiko bewertet22−24. Entsprechend der Einteilung aus der zurzeit in Überarbeitung befindlichen S3-Leitlinie „Zahnärztliche Chirurgie unter oraler Antikoagulation/Thrombozytenaggregationshemmung“17 lassen sich verschiedene akute und elektive oralchirurgische Eingriffe mit niedrigem und mit größerem Blutungsrisiko unterscheiden. Eine differenziertere Übersicht gibt die Tabelle 317,25. Einen zentralen Aspekt der Risikobewertung stellt die Komprimierbarkeit der Wunde dar, die zum Beispiel bei Abszessspaltungen nicht möglich ist.
Es gibt nur wenige Studien zum Blutungsrisiko bei oralchirurgischen Eingriffen unter fortlaufender Therapie mit Thrombozytenaggregationshemmern. Hier liegen die publizierten Raten von Blutungskomplikation zwischen 1,6 und 2,7 Prozent26–28. Auf der Basis einer Metaanalyse mit insgesamt 1.752 Patienten erhöht sich das Risiko postoperativer Blutungen nach Zahnextraktionen unter TAH gegenüber der Kontrollgruppe ohne TAH um den Faktor 2,4529. Allerdings war in einigen kleineren klinischen Studien die Häufigkeit perioperativer Blutungen bei Patienten mit und ohne TAH vergleichbar. Sie konnten stets mit einfachen chirurgischen Maßnahmen gestillt werden27,30,31. Die Thienopyridine Clopidogrel und Prasugrel erhöhen das Nachblutungsrisiko deutlicher als ASS32. Insbesondere bei Prasugrel muss mit stärkeren Blutungen gerechnet werden24.
Für die oralen Antikoagulanzien (VKA und DOAK) sind die Daten sehr viel heterogener. Die meisten Studien haben verschiedene Behandlungsmodalitäten in der Test- und der Kontrollgruppe. Die Ergebnisse einer großen Beobachtungsstudie mit mehr als 2.800 Extraktionen ergaben ein etwas erhöhtes Blutungsrisiko bei Patienten mit kontinuierlicher Warfarin-Gabe gegenüber Patienten ohne VKA (3,6 Prozent vs. 0,4 Prozent)33. In einer retrospektiven klinischen Studie mit 543 Patienten zeigte sich bei Patienten mit VKA beziehungsweise DOAK eine Inzidenz postoperativer Blutungen nach Zahnextraktionen von 10 bzw. 9,7 Prozent gegenüber 0,9 Prozent ohne Antikoagulanzien34. Eine Metaanalyse, die sechs Studien mit insgesamt 591 Patienten mit Zahnextraktionen inkludierte, konnte keine signifikanten Unterschiede des Blutungsrisikos bei fortlaufender und unterbrochener Antikoagulation ermitteln35. Tendenziell wird in den meisten Studien ein ähnliches Blutungsrisiko bei VKA und DOAK angegeben, allerdings mit teilweise deutlich höheren Risiken bei einzelnen DOAK36,37. In zwei aktuellen prospektiven klinischen Studien traten bei Zahnextraktionen unter fortlaufender Antikoagulation mit DOAK bei mehr als 25 Prozent21 beziehungsweise 36 Prozent38 der Eingriffe Blutungen auf. In einem systematischen Review ergab sich bei der Fortführung der Behandlung mit TAH oder Antikoagulanzien bei „kleinen“ oralchirurgischen Eingriffen ein 1,6-fach höheres Risiko für Blutungsereignisse, wobei bei VKA intraoperative Blutungen deutlich häufiger auftraten39.
Klinisches Vorgehen bei TAH
Bei Patienten, die mit TAH wie ASS behandelt werden, sind prolongierte Blutungsereignisse nicht zu erwarten32, wohingegen sich beim Absetzen des medizinisch indizierten ASS das Risiko eines kardiovaskulären Ereignisses um das Draeifache erhöht40,41. Demzufolge ist eine präoperative Karenz, die aufgrund der langsamen Neubildung gerinnungsfähiger Thrombozyten mindestens fünf bis sieben Tage erforderlich wäre, nicht indiziert17,42–44. Dies gilt insbesondere dann, wenn ASS zur sekundären Prävention nach zerebrovaskulären und myokardialen Infarkten eingesetzt wird, sowie bei Clopidogrel sechs bis 12 Monate nach Stentimplantation24. Bei den Thienopyridinen sollte lediglich „im komprimierbaren Bereich“ unter Anwendung hämostyptischer Maßnahmen ohne Absetzen operiert werden17. Ein präoperatives Pausieren der Clopidogrel-Gabe für eine Woche wird für Patienten ohne Stents mit einem geringen kardialen Risiko diskutiert31. Liegt ein höheres operatives Blutungsrisiko vor (zum Beispiel Eingriffe im Mundboden), sollte der Patient an Fachpraxen oder Kliniken verwiesen werden17. Bei einer Dual- oder Tripletherapie mit TAH, die vor allem in einem Zeitraum bis zu 6 Monate nach Stentimplantation oder bis zu 12 Monate nach einem akutem Koronarsyndrom zum Einsatz kommt, ist auch nach oralchirurgischen Eingriffen mit einem erheblichen Nachblutungsrisiko zu rechnen45. Ein unkontrolliertes Absetzen der Dual- oder Tripletherapie kann zu Stentthrombosen mit einer massiven Mortalitätssteigerung führen46. Mahmood und Mitarbeiter sprechen in diesem Fall von einem fünf- bis zehnfach erhöhten Risiko24. Als Konsequenz sollten Elektiveingriffe möglichst verschoben werden oder die Patienten sind bei notwendigen Operationen beziehungsweise im Notfall (besonders bei einer Tripletherapie) an eine Klinik zu überweisen24,41. Nach dem Übergang zur Monotherapie (zumeist mit ASS) sollten Eingriffe gegebenenfalls in mehreren Sitzungen und in begrenztem Umfang durchgeführt werden47. Neben den potenziellen kardiovaskulären Risiken, die dies birgt, ist ein präoperatives Absetzen der TAH nach Ansicht zahlreicher Autoren auch aufgrund der geringen Wahrscheinlichkeit (~ 0,2 Prozent) fataler Blutungsereignisse kontraindiziert26,27.
Klinisches Vorgehen bei VKA und DOAK
Der „International Normalized Ratio“(INR)-Wert ist ein labormedizinischer Parameter der Funktionsleistung des extrinsischen Systems der Blutgerinnung. Bei Gesunden entspricht der Wert 1,0 einer normalen extrinsischen Gerinnungsaktivität. Bei allen Patienten mit einer mechanischen Herzklappe ist eine lebenslange antikoagulative Abschirmung mit einem VKA (zum Beispiel Marcumar) notwendig, um eine Thrombusbildung an der Herzklappe mit konsekutiver Klappendysfunktion zu verhindern48. Patienten mit modernen mechanischen Prothesen in Aortenposition sollten mit einem INR-Zielkorridor von 2–3, in Mitralposition oder bei zusätzlichen Risikofaktoren wie Vorhofflimmern mit einem INR-Zielkorridor von 2,5–3,5 antikoaguliert werden49. Bei dentoalveolären Eingriffen mit geringem Blutungsrisiko (Tab. 3) wird von vielen Autoren keine Indikation für eine Unterbrechung der VKA-Gabe und ein sogenanntes „Bridging“ mit niedermolekularem Heparin gesehen25,33,35,41,42,50. In einem systematischen Review, das 16 klinische Studien mit oralchirurgischen Behandlungen einschloss, zeigte sich, dass kleinere Eingriffe (Extraktionen, einfache Implantationen) auch unter Fortführung der VKA-Gabe im therapeutischen Bereich sicher durchgeführt werden können, wenn lokale hämostatische Maßnahmen (Gelatineschwämme, Tranexamsäure, Verbandplatten) adjuvant eingesetzt werden25. Einzelne Autoren plädieren jedoch bei Eingriffen mit höherem Blutungsrisiko für ein temporäres Bridging10,17,42. Sollte ein Bridging notwendig sein, erfolgt dies immer in enger Rücksprache mit dem behandelnden Hausarzt oder Kardiologen17.
Für die Gefahr einer Nachblutung war in einer großen klinischen Studie der präoperative INR-Wert ein hochsignifikanter Risikofaktor33. Douketis und Mitarbeiter empfehlen eine Pausierung der VKA für 2–3 Tage mit einem Zielkorridor des INR von 1,6–1,942. Bei geplanten Eingriffen sollte der INR-Wert nicht über 3,5 beziehungsweise 3,0 liegen33,44, da höhere INR-Werte mit einer höheren Rate an Blutungskomplikationen korrelieren33. Eine unkontrollierte, vollständige Unterbrechung der Antikoagulation aufgrund potenzieller Blutungsrisiken bei oralchirurgischen Eingriffen ist keinesfalls indiziert51.
Da für den Praktiker die Kenntnis des aktuellen INR-Wertes (das heißt, nicht älter als 24 bis 48 Stunden) von großer Bedeutung ist33,42, stellen Systeme, mit denen der Patient den aktuellen INR-Wert selbst bestimmen kann (zum Beispiel CoaguChek, Roche), für die Planung eines oralchirurgischen Eingriffs eine wesentliche Erleichterung dar (Abb. 4).
Bei den DOAK ist aufgrund der kurzen Halbwertszeiten (HWZ) ein Bridging nicht sinnvoll46,52. Eine Einschätzung der aktuellen Wirkung von DOAK ist nur mit speziellen Laboruntersuchungen möglich, die im Praxisumfeld nicht kurzfristig durchführbar sind. Demzufolge orientiert sich das klinische Vorgehen am verordneten Wirkstoff und an den Dosierungsintervallen53. In der Regel können DOAK bei komprimierbaren dentalen Eingriffen weitergeführt werden17,39. Der Operationszeitpunkt sollte in möglichst großem Abstand zur letzten Einnahme und damit ans Ende der Wirkdauer gelegt werden17,36. Bei Eingriffen mit höherem Blutungsrisiko (Tabelle 3) und/oder fehlender Komprimierbarkeit sind Intervalle von mindestens 24 Stunden oder länger einzuhalten46,53,54. Es ist jedoch zu beachten, dass insbesondere Dabigatran bei Patienten mit eingeschränkter Nierenfunktion akkumulieren kann und somit unter Berücksichtigung eines potenziell erhöhten Blutungsrisikos eine Verlängerung der Medikationsunterbrechung bis zu fünf Tagen empfohlen wird55. Soweit innerhalb der individuellen postoperativen Beobachtungszeit keine Blutungen aufgetreten sind, kann bei Einmalgabe des DOAK noch bis zu 14 Stunden die Dosis nachgeholt werden, bei zweimal täglicher Dosis wird die Antikoagulation wieder mit der abendlichen Dosis fortgesetzt23.
Erst in jüngerer Zeit wurden die einzelnen DOAK bezüglich der Blutungskomplikationen in der Oralchirurgie systematischer untersucht. In einer retrospektiven Beobachtungsstudie waren die postoperativen Blutungen unter Rivaroxaban gegenüber den Kontrollfällen signifikant erhöht (11,5 Prozent versus 0,7 Prozent). Allerdings waren die Komplikationen immer durch konventionelle hämostatische Maßnahmen beherrschbar56. Eine Metaanalyse bestätigte das erhöhte postoperative Blutungsrisiko speziell für Rivaroxaban gegenüber Dabigatran57. Eine jüngst publizierte retrospektive japanische Studie verglich die zurzeit am Markt erhältlichen DOAK bei 232 älteren multimorbiden Patienten miteinander. In allen Fällen wurden Extraktionen von einzelnen Zähnen oder Mehrfachextraktionen durchgeführt. Primärer Endpunkt der Studie war das Auftreten von Blutungen innerhalb von 24 Stunden bis zu einer Woche nach dem Eingriff. Hierbei lag wiederum Rivaroxaban mit einer Blutungshäufigkeit von 32,4 % deutlich vor Apixaban (18,2 Prozent) und Edoxaban (5,7 Prozent). Bei Dabigatran trat im Beobachtungszeitraum keine Blutung auf. Gegenüber Edoxaban und Dabigatran war die Blutungshäufigkeit bei Rivaroxaban signifikant höher (p = 0,03)37.
In einem weiteren aktuellen systematischen Review wurden die Blutungshäufigkeiten nach Zahnextraktionen unter fortlaufender DOAK-Gabe und bei fortgesetzter Einnahme von VKA verglichen. Auf der Grundlage von acht Studien mit insgesamt 1.113 Patienten (539 DOAK versus 574 VKA) zeigte sich ein signifikant geringeres Blutungsrisiko bei den DOAK (Risk Ratio: 0,68). Interessanterweise waren bei den verschiedenen DOAK keine signifikanten Unterschiede hinsichtlich des Blutungsrisikos erkennbar. Die Autoren betonen jedoch, dass das aktuelle Evidenzlevel sehr gering ist und die Ergebnisse mit Vorsicht interpretiert werden sollten58. Auffällig ist die Tatsache, dass momentan fast ausschließlich Vergleichsstudien mit DOAK existieren, bei denen Blutungskomplikationen nach einfachen Eingriffen wie Extraktionen betrachtet werden. Studien zu Blutungshäufigkeiten nach komplexeren kieferchirurgischen Eingriffen unter Gabe von DOAK fehlen fast völlig.
Hämostyptische Maßnahmen
Neben einer adaptierenden Naht ohne Periostschlitzung sind hämostyptische Maßnahmen bei Patienten unter gerinnungshemmender Therapie von großer Bedeutung59. In der postoperativen Phase haben sich Aufbisstupfer, die Einlage gerinnungshemmender resorbierbarer Tamponaden oder Kegel aus Kollagen sowie präoperative angefertigte Tiefziehschienen als Verbandplatten gegebenenfalls in Kombination mit einem niedrigviskösen Silikon bewährt (Abb. 5 und 6)27,54,60.
Obwohl noch kein besonderer Vorteil eines einzelnen Verfahrens herausgearbeitet werden konnte, scheint die Anwendung hämostyptischer Maßnahmen generell die Nachblutungsraten zu reduzieren17,59. Bei den lokalen Antifibrinolytika hat sich die Tranexamsäure (TXA) in den vergangenen Jahren als geeignetes Präparat zur Blutungsprophylaxe etabliert61. TXA wird als fünfprozentige Mundspüllösung (viermal täglich für Minuten) für mindestens zwei postoperative Tage empfohlen und kann auch bei akuten Blutungsereignissen in Kombination mit einem Tupfer eingesetzt werden54,61. Eine aktuelle Metaanalyse fand jedoch nur ein geringes Evidenzlevel bezüglich der Anzahl der Blutungsereignisse62. Ähnliche Ergebnisse lieferte eine neue randomisierte klinische Studie mit mehr als 200 Teilnehmern21. Zur besseren Darstellung des perioperativen Managements bei Patienten mit Gerinnungshemmern hat sich eine Darstellung in Form eines Flussdiagramms bewährt (Abb. 7).
Implantate bei Patienten mit Gerinnungshemmern
Bei Einnahme von ASS in niedriger Dosierung (100 mg/Tag) ist die Häufigkeit von Blutungskomplikationen gering und wiegt das Risiko einer möglichen Thrombembolie nicht auf. Ein Absetzen vor dentoalveolären Eingriffen, also auch Implantationen, ist nicht notwendig63. In einer implantologischen Cross-over-Studie mit ASS oder Clopidogrel fanden sich keine statistischen Unterschiede bei den Blutungskomplikationen64. Zur Blutungsprophylaxe ist auch in der Implantologie der postoperative Einsatz einer Tranexamsäure-Mundspülung oder eines Fibrinklebers zu erwägen65. Bei Patienten, die mit Antikoagulanzien behandelt werden, ist eine Blutung im Rahmen implantologischer Maßnahmen häufiger und kann auch länger andauern. Im Rahmen unkomplizierter Implantatinsertionen wird empfohlen, die Antikoagulation weiterzuführen7,65,66. Während einige Autoren kein Problem darin sehen, auch unter fortgeführter Gerinnungshemmung alle implantologischen Therapieverfahren durchzuführen67, wird in anderen Publikationen bei fortgesetzter Antikoagulation von Eingriffen mit Periostinzisionen, Mehrfachimplantationen, extensiven Lappenpräparationen, Augmentationen oder Sinuslift-OPs abgeraten7,63,68,69. In diesem Zusammenhang sollten auch minimalinvasive Verfahren der angulierten oder schablonengeführten transginigivalen Implantatinsertion sowie die Anwendung von ultrakurzen Implantaten oder Miniimplantaten in Betracht gezogen werden65,70. Bei größeren Eingriffen (Augmentationen) wäre ein INR-Wert von 2,0 (ohne Umstellung auf Heparin) ideal. Diese Situation muss aber vorab zwingend mit dem zuständigen Haus- oder Facharzt abgesprochen werden, um den notwendigen therapeutischen Bereich des Patienten zu berücksichtigen65.
Die Arbeitsgruppe um Gomez-Moreno untersuchte Blutungskomplikationen bei Patienten, die mit Dabigatran beziehungsweise Rivaroxaban antikoagulatorisch behandelt wurden. Bei Dabigatran kann eine Implantattherapie sicher zwölf Stunden nach der letzten Einnahme unter Anwendung lokaler hämostatischer Maßnahmen (Tranexamsäure) erfolgen71; bei Rivaroxaban fand sich unter weiter andauernder Einnahme kein statistischer Unterschied in den Blutungsereignissen zwischen der Test- und der Kontrollgruppe72. Die erneute Einnahme des DOAK ist bei Blutungsfreiheit am Folgetag wieder möglich70. In einer aktuellen Metaanalyse, die acht Studien mit 2.366 Implantaten bei 1.467 Patienten inkludierte, zeigte sich ein 2,3-fach erhöhtes Nachblutungsrisiko bei fortgeführter Antikoagulation mit DOAK oder Warfarin73. Allerdings konnten auch hier alle Blutungen mit lokalen hämostyptischen Maßnahmen gestoppt werden. Ein präoperatives Absetzen der Antikoagulation sollte nur nach einer sorgfältigen Risikoanalyse in Absprache mit dem Patienten und dem behandelnden Arzt erfolgen73. Wesentliche Punkte, die bei der implantologischen Behandlung antikoagulierter Patienten zu beachten sind, sind in Tabelle 4 aufgelistet.
Ein Beitrag von PD Dr. Frank Halling, Fulda und Marburg
Literatur auf Anfrage über news@quintessenz.de