Einleitung
Im Zentrum des Beitrags von Prof. Dr. Dr. Ralf Radlanski für die Quintessenz Zahntechnik 10/2021 steht die Frage nach der Morphodynamik und Anpassungsfähigkeit des Kiefergelenks an Veränderungen der Okklusionsbeziehungen über die Jahrzehnte hinweg. Die Tatsache nämlich, dass die Zähne heute auch noch im letzten Lebensdrittel im Mund erhalten werden55 und über die Jahre nicht ortsstabil im Knochen stehen, stellt uns vor die Herausforderung, eine physiologische Harmonie zwischen der Okklusion, der Kiefergelenksfunktion und den beteiligten Weichgeweben zu erhalten. Dies zumindest ist ein Teilaspekt eines multifaktoriellen Geschehens, welches bei einigen Patienten zum Problem der Craniomandibulären Dysfunktion führt5,27,28,38,39,54. Wichtige Hinweise zur Prävention und zur Therapie ergeben sich aus der Kenntnis der Entstehung des Kiefergelenks, seiner prä- und postnatalen Entwicklung57,58 und aus der Frage nach der Nutzbarkeit eines möglicherweise noch vorhandenen Wachstumspotenzials für Anpassungen von Bisslagen noch im Erwachsenenalter.
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Entwicklung des Kiefergelenks
Das Kiefergelenk zeichnet sich durch eine sehr hohe Adaptabilität aus. Die physiologische Ursache ist in der Embryonalentwicklung begründet.
Vorgeburtliche Entwicklung
Das Kiefergelenk der Säugetiere – so auch des Menschen – stellt eine Besonderheit dar: Während fast alle Gelenke des Skeletts (weitere Ausnahme: das Sternoclaviculargelenk) durch Abgliederung entstehen, wird das Kiefergelenk durch Anlagerung seiner Anteile gebildet. Zudem ist es noch paarig und im Kinnbereich durch die Symphysis menti verbunden. Das Kiefergelenk, so wie wir es vorfinden, wird oft auch als „sekundäres“ Kiefergelenk bezeichnet, weil vor der Entstehung des Kiefergelenks im Embryo zuerst ein „primäres“ Kiefergelenk entsteht21, welches mit dem eigentlichen Kiefergelenk aber nichts zu tun hat: Bevor unser Kiefergelenk entsteht, formt der Meckelsche Knorpel einen Rahmen für den Unterkiefer60.
Lateral vom Meckelschen Knorpel verdichtet und differenziert sich das Mesenchym zu Knochen, aber lange, bevor ein Condylus entsteht, reicht das dorsale Ende des Meckelschen Knorpels bis ins Cavum tympani hinein (Abb. 1). Das dorsale Ende des Meckelschen Knorpels stellt hier die Anlage des Malleus dar, welches mit der knorpeligen Anlage des Incus artikuliert. Wenn der Embryo mit etwa acht bis neun Wochen dazu in der Lage ist, seinen Mund zu öffnen, artikuliert er mit dem dorsalen Ende des Meckelschen Knorpels gegen den Incus24. Erst, wenn sich ein Condylus gebildet hat und er in Kontakt mit seiner Fossa mandibularis tritt, wird der Meckelsche Knorpel zurückgebildet und es bleibt nur noch der Incus bestehen, der dann Aufgaben der Schallleitung übernimmt. Das definitive Kiefergelenk entsteht also neu, etwa in der zwölften bis 14. Woche41, anterior und lateral von dieser provisorischen knorpeligen Gelenkverbindung (Abb. 2a bis d). Weil sich der Condylus an das Os temporale anlagert, wird es als „Anlagerungsgelenk“ bezeichnet21,56,69.
Der Diskus artikularis entsteht durch Verdichtung von mesenchymalem Gewebe zwischen dem proliferierenden und nach dorso-cranial schiebenden Condylus und der Region der späteren Fossa mandibularis. Etwa in der zwölften bis 14. Woche haben sich die Anteile des entstehenden Kiefergelenkes so weit angenähert, dass sie miteinander artikulierend in Funktion stehen41. Zu dieser Zeit hat der Diskus schon seine bikonkave Gestalt. Kollagene Fasern sind zu dieser Zeit auch schon nachweisbar (Abb. 3a). Zudem ist er deutlich vaskularisiert, aber, sobald der Fetus Bewegungen im seinem Kiefergelenk durchführt, wird er als avaskulär beschrieben66. Es sind aber dennoch an seiner Unterseite feine Kapillaren nachweisbar, die bis ins zweite Lebensjahr erhalten bleiben können2,37.
Die Gelenkspalten oberhalb und unterhalb des Diskus artikularis entstehen durch Einreißen des mesenchymalen Gewebeverbundes (Abb. 3b). Es bilden sich zunächst einzelne Inseln von flüssigkeitsgefüllten Hohlräumen, die dann miteinander konfluieren, bis etwa in der 17. Woche ein jeweils gemeinsamer Spaltraum gebildet ist59. Die Gelenkkapsel, in die von anterior auch der M. pterygoideus einstrahlt und mit der von innen der Diskus artikularis verwachsen ist, wird in der elften Woche erkennbar3. Im Proc. condylaris und im Proc. coronoideus befinden sich zeitweise (zwischen der elften und der 14. Woche pränatal) Knorpelkerne61, die wesentlich zum Wachstum in dieser Region beitragen (Abb. 4).
Zustand bei der Geburt
Bei der Geburt sind der Ramus ascendens und der Condylus noch sehr kurz; das Caput condyli liegt noch etwa auf Höhe der Kauebene [16] (diese Bezeichnung sei erlaubt, obwohl beim Säugling noch keine Zähne durchgebrochen sind). Der Condylus ist von Knorpel überzogen, dessen äußere, gelenknahe Schicht (artikuläre Zone) histologisch als knorpelig-fibrös und auch als bindegeweblich bezeichnet wird. Sie ist etwa 50 Mikrometer dick und besteht vor allem aus dichten Kollagenfaserbündeln, eingelagert in eine Population von Chondrozyten und Fibroblasten31,56,66. Darunter liegt eine proliferative Schicht, die oberflächlich vor allem durch mitotisch sehr aktive Bindegewebezellen charakterisiert ist. Sie wandern ins Zentrum dieser Schicht ein und sind dort als Prächondroblasten erkennbar. Das enorme Wachstumspotenzial des Condylus ist auf diese proliferative Zone zurückzuführen31. Weiter innen noch liegt eine hyaline Knorpelschicht, die Chondroblasten und Chondrozyten enthält. Sie gehen in die noch weiter darunter liegende Schicht der enchondralen Ossifikation über31,49,56.
Wachstum des Condylus in Kindheit und Jugend
In der Kindheit und in der Jugend, vor allem zur Zeit des präpuberalen Hauptwachstumsschubes, ist neben den generellen Umbauvorgängen an der Mandibula der Condylus aufgrund dieses histologisch beschriebenen Schichtenaufbau das Zentrum des Wachstums14,32,34. Dies wird zumindest unstrittig für die Anpassung der Länge des Ramus ascendens der Mandibula und der Länge des Condylus an die Bisshebungen beim Wechsel vom Milchgebiss zum permanenten Gebiss so beobachtet56. Während zur Geburt die Fossa mandibularis noch flach ist (Abb. 5a), hat sie sich mit etwa fünf Jahren vertieft und der Condylus hat an Länge gewonnen (Abb. 5b). Bei weiterer Bisshebung passen sich die Länge des Condylus und die Tiefe der Fossa mandibularis weiter an (Abb. 5c), bis auch die Eminentia articularis beim Erwachsenen noch deutlicher akzentuiert ist (Abb. 5d)65.
Anatomie und Histologie des Kiefergelenks
Die beiden dorsocranialen Enden der Mandibula tragen je einen Condylus, wobei meist noch zwischen einem Caput mandibulae (Gelenkkopf) und einem Collum mandibulae (Hals) unterschieden wird. Die Fossa mandibularis (auch als Fossa articularis bezeichnet) liegt am Os temporale in der Region zwischen dem Arcus zygomaticus und dem Porus acusticus. Dorsal grenzt sie an die Fissura petrotympanica (Glaser-Spalte). Die anteriore Begrenzung ist das Tuberculum articulare (auch als Eminentia articularis bezeichnet). Die Gelenkbahn verläuft geschwungen, zunächst konkav, dann konvex nach schräg vorn unten.
Der Condylus und die Fossa mandibularis sind von Gelenkknorpel überzogen. Zwischen den beiden Gelenkflächen liegt der knorpelige Diskus artikularis. Er teilt das Kiefergelenk in einen großen oberen, mehr geschwungen verlaufenden Gelenkspalt und einen kleineren, unteren Gelenkspalt, der nur den Condylus umfasst. Der Discus artikularis ist allseits von innen mit der Kapsel verwachsen, wobei die lateralen und medialen Kapselanteile straffer sind als die anterioren und dorsalen Bereiche. Aufgrund dessen ist der Diskus articularis auf dem Condylus eher in sagittaler Richtung beweglich; laterale oder mediale Bewegungen sind physiologischerweise weniger durchführbar. In den beiden Gelenkspalten befindet sich, wie in allen Gelenken, Synovia. Der Diskus artikularis zeigt anterior eine dicke Randzone (Pars anterior), ebenso posterior (Pars posterior). Die Randzonen umschließen einen dünneren mittleren Bereich (Pars intermedia).
Im Laufe der Kindheit und der Jugend nehmen die Blutgefäße im Diskus ab, die noch zur Zeit der Kindheit vor allem im vorderen Randbereich reichlich vorhanden waren. Die Produktion von Fasern im Diskus ist bei Jugendlichen gegenüber Kindern gesteigert, weshalb im Erwachsenenalter die Dichte der Kollagenfasern deutlich erhöht ist. Auch wenn die Fasern miteinander verwoben verlaufen, wird eine Hauptfaserrichtung beschrieben: transversal im vorderen und hinteren Randbereich und sagittal im dünneren mittleren Bereich des Diskus67. Elastische Fasern kommen im vorderen Bereich des Diskus vor35. Letztlich wird der Diskus im Erwachsenenalter als faserknorpelig beschrieben48. Das Kiefergelenk ist allseits von einer Gelenkkapsel umgeben. In ihrem anterior-lateralen Anteil ist eine Faserverdichtung in Form des Lig. laterale erkennbar. Ihm wird die Funktion einer Zuggurtung beim Übergang von der initialen Rotation in die Translation zugesprochen. Von anterior inseriert der M. pterygoideus lateralis. Er ist meist zweibäuchig und seine geteilte Sehne zieht an die Kapsel, aber auch durch die Kapsel hindurch und strahlt mit ihrem oberen Anteil in den Diskus artikularis ein, mit ihrem unteren Anteil in das Caput mandibulae. Im dorsalen Bereich gibt es keinen Antagonisten in Form eines Muskels, sondern es werden stattdessen zwei elastische Bänder vorgefunden, die zusammen als bilaminäre Zone bezeichnet werden. Wenn der Diskus artikularis durch Kontraktion des M. pterygoideus lateralis nach anterior bewegt wird, muss das retrodiskale Gewebe allein mit seiner Elastizität dafür sorgen, dass der Diskus wieder nach dorsal auf den Condylus gelangt.
Zwischen den beiden Bändern liegt lockeres Bindewebe, welches Fettzellen, Arterien, Venen und Bindegewebe aus der Gl. parotidea enthält. Dieser Bereich wird auch als Genu vasculosum bezeichnet22, und weil es auf diese Weise drei Schichten sind, ist auch die Bezeichnung trilaminäre Zone gebräuchlich. Der gesamte elastische und bindegewebliche Bereich dorsal des Gelenks wird auch als retroartikuläres Polster bezeichnet56. Das Stratum superior, also das obere Band der bilaminären Zone, ist kurz und elastisch und reicht vom Diskus artikularis bis an die Fissura petrotympanica und tympanosquamosa, an denen es zusammen mit der Kapsel inseriert. Es gibt auch zusätzliche variabel ausgeprägte Insertionen am knöchernen Gehörgang und an der Fascie der Gl. parotidea. Das Stratum inferior der bilaminären Zone ist weniger elastisch, aber straff. Es ist zusammen mit der Gelenkkapsel weit unten dorsal am Condylus angewachsen. Das Kiefergelenk wird im Wesentlichen aus dem N. auriculotemporalis (N. V3) innerviert; es sind aber auch Abzweigungen aus dem N. massetericus und den Nn. temporales profundi beschrieben. Auch Äste des N. facialis erreichen die Kiefergelenkregion.
Die Blutversorgung erfolgt aus der A. auriculotemporalis profunda, ein Abzweig aus der A. maxillaris. Der venöse Abfluss geschieht über die Rr. articulares in die V. retromandibularis. Beim wachsenden Kiefergelenk sind an allen Gelenkoberflächen vier Schichten erkennbar; sie sind am Condylus besonders gut unterscheidbar. Oberflächlich liegt eine artikuläre, fibröse Bindegewebeschicht. Sie ist etwa 50 Mikrometer dick und setzt sich vor allem aus dichten Kollagenfaserbündeln, aber auch elastischen Fasern zusammen. Beim wachsenden Kiefergelenk sind noch Chondrozyten und Fibroblasten in variabler Anzahl vorhanden.
Darunter liegt die zellreiche Proliferationsschicht. Sie besteht vor allem aus Prächondroblasten, von denen das Wachstumspotenzial des Condylus beim Heranwachsenden ausgeht. Weiter darunter liegt eine hyaline Knorpelschicht, die nur Chondroblasten und Chondrozyten enthält, die zum darunter liegenden Knochen mit immer mehr perizellulärer Knochenmatrix umgeben sind. Sie sind allerdings – anders als beim Epipyhsenknorpel von Extremitätenknochen – nicht säulenförmig aufgeschichtet, sondern im Kiefergelenk eher irregulär angeordnet.
Schließlich liegt innen des Condylus die Zone der enchondralen Ossifikation, bestehend aus Primärspongiosa und sekundären Knochentrabel weiter im Inneren.
Die vier Gewebeschichten am wachsenden Condylus sind also:
- artikuläre fibröse Bindegewebeschicht
- zellreiche Proliferationsschicht
- hyaline Knorpelschicht
- Zone der enchondralen Ossifikation
Auch beim Erwachsenen sind noch unterschiedliche, histologisch erfassbare Schichten im Aufbau des Condylus zu erkennen. Die äußerste, fibröse artikuläre Bindewebsschicht ist auch hier noch etwa 50 Mikrometer dick. Die darunter liegende Proliferationsschicht ist sehr dünn, stellenweise nur unvollständig oder gar nicht mehr vorhanden. Die hyaline Knorpelschicht des Heranwachsenden ist beim Erwachsenen zu einer Zone von Faserknorpel geworden, mit noch irregulär verteilten Chondrozyten. Darunter liegt eine Schicht verkalkten Knorpels in dem Fasernetzwerk. An sie schließt sich die zentral liegende Knochenzone an, deren Spuren von Apposition und Resorption gering ausgeprägt sein können.
Das Kiefergelenk ist in vielerlei Hinsicht ein besonderes Gelenk: Die beiden Condylen sind über den Unterkieferbogen miteinander verbunden, der M. pterygoideus lateralis durchdringt von anterior die Kapsel, um sowohl in den Diskus als auch in den Condylus zu inserieren und besonders eigenartig ist die Tatsache, dass es für den M. pterygoideus lateralis keinen direkten Antagonistenmuskel gibt: Die von ihm ausgelöste Protraktion des Gelenks nach anterior muss im Wesentlichen durch die Elastizität der bilaminäre Zone ausgeglichen werden. Unterstützt wird dies jedoch durch andere Muskulatur, die indirekt hier retraktiv einwirken kann. Der Diskus artikularis selbst, wenn er einmal durch den M. pterygoideus lateral protrahiert wurde, ist allerdings noch mehr von der Elastizität der bilaminären Zone abhängig, wenn es darum geht, in seine neutrale Position zurückzugleiten. Aufgrund seiner bikonkaven Form wird er aber auch etwas vom Condylus selbst geführt – solange seine Konkavität noch vom Condylus erfasst wird.
Proliferation im Kiefergelenk
Nicht nur in einer klar histologisch abgrenzbaren Wachstumszone, sondern sowohl in den oberflächlichen als auch in den tieferen Lagen des Condylus wurden Ansammlungen von Knorpelzellen gefunden, aus denen man auf ein allgemeines Potenzial zum remodellierenden Wachstum im condylären Bereich schließen kann33. Dies ist nicht nur auf den jugendlichen Hauptwachstumsschub beschränkt, sondern wird auch beim Erwachsenen beobachtet25,68, allerdings in abgeschwächter Ausprägung. Die hypertrophen Chondrocyten, auf die das starke Wachstumspotenzial des Condylus zurückzuführen ist, werden allerdings nur bis etwa zum 30. Lebensjahr beobachtet29,49, danach dominiert eher Faserknorpel30.
Im Rahmen der molekularen Medizin und des Tissue engineering ist auch die Kontrolle der Proliferation im Kiefergelenk ins Zentrum des Interesses gerückt. Kandidaten sind der Insuline-like Growth Factor10, aber auch Matrixmetalloproteinasen9 sowie der Tumor-Nekrose-Faktor8. Letztere stehen aber auch im Zusammenhang zu einwirkenden mechanischen Einflüssen. Es sind jedoch nicht alle Steuerungsvorgänge auf molekularer Ebene bekannt. Deshalb kann bis heute nicht am Patienten gezielt und selektiv Proliferation erzeugt werden.
Adaptationsvorgänge im Kiefergelenk
Wenn auch beim älteren Erwachsenen weniger proliferativer Knorpel, sondern eher Faserknorpel im Condylus vorherrscht30, ist dennoch mit Anpassungen des Condylus zu rechnen: Die gesamte Mandibula unterliegt Wachstums- und Remodellationsvorgängen12,14,15, wobei gerade der Condylus aufgrund seines immer noch hohen Anteils an Knorpelgewebe weiterhin anpassungsfähig ist63,64,66.
Die Vertiefung von Fossa und Versteilung der Eminentia mit Entwicklung der Dentition56,65 bei der normalen Entwicklung des Gebisses beim Jugendlichen wurde schon besprochen, doch auch bei Erwachsenen sind Veränderungen und Anpassungen an die Okklusionsebene beobachtet worden, beispielsweise beim Absinken der Bisshöhe durch Abrasion bei Inuit und australischen Aboriginees23. Vergleiche von Fernröntgenaufnahmen von Patienten als junge Erwachsene und als Hochbetagte zeigen über die Jahrzehnte hinweg Veränderungen, vor allem remodellierendes Wachstum in Größenordnungen von bis zu einem Zentimeter1. Dies betrifft nicht nur die knorpeligen Strukturen der Nase und der Ohren, was allgemein bekannt ist, sondern es wurden Lageveränderungen, Schwenkungen und Größenänderungen der Maxilla und der Mandibula beobachtet. Dies betraf auch die Kiefergelenke. Dieses Potenzial ist auch bei erwachsenen Patienten noch therapeutisch nutzbar.
Klinische Konsequenzen
Aus kieferorthopädischer Sicht tragen gleichmäßig angeordnete und physiologisch gegenseitig abgestützte Zähne zum langfristigen Erhalt des Kauorgans bei26. Insofern ist es auch wichtig, die Zahnbögen des Oberkiefers und des Unterkiefers kongruent auszuformen, damit nicht einzelne Zähne aufgrund der Wanderung, die ohnehin unkontrolliert stattfindet, weiter aus dem Zahnbogen herauswandern. Die Anpassung der Länge Mandibula, mit dem Ziel, eine korrekte Zuordnung beider Zahnbögen zu erreichen, ist dabei ein wesentlicher Bestandteil der Therapie. Neben den allgemeinen Remodellierungsvorgängen ist hier besonders die Proliferationsmöglichkeit im Kiefergelenk nutzbar.
Funktionskieferorthopädie
Hieraus kann geschlossen werden, dass eine Rücklage der Mandibula, die meist mit einer Dysgnathie der Angle-Klasse II vergesellschaftet ist, durch Stimulation dieses Wachstums ausgeglichen werden kann. Hierzu werden oft funktionskieferorthopädische Geräte, wie der sogenannte „Twin Block“ und verwandte Apparaturen (Doppelvorschubplatte, Aktivator und Bionator, aber auch Herbst-Apparatur, Jasper Jumper, Sabbagh-Spring), verwendet. Viele Kieferorthopäden sind der Überzeugung, dass sie mit diesen Geräten das Wachstum der Mandibula stimuliert haben6,50,63,64, andere gehen davon aus, dass die Unterkiefer auch ohne eine Behandlung gewachsen wären7,47. Die Kontroverse dauert durchaus an4,17,36,42,43 und die Studien werden dadurch erschwert, dass es tatsächlich verschiedene Wachstumstypen gibt12. Unbestritten ist aber, dass die Zahnbögen einander angeglichen werden können46, wobei nicht nur skelettale Veränderungen (Abb. 8a und b), sondern auch Anpassungen der Alveolarfortsätze zugrunde liegen47, die auf das Remodeling zurückzuführen sind.
Auch die umgekehrte Situation, wenn eine maxilläre Hypoplasie oder eine mandibuläre Prognathie diagnostiziert werden, wird zunächst funktionskieferorthopädisch angegangen18. Vom Versuch, mit Kopf-Kinn-Kappen oder ähnlichen Geräten, das Wachstum der Kiefergelenke durch Kompression zu bremsen, wird heute eher abgeraten70. Das sagittale und transversale Nachentwickeln der Maxilla sind Therapiekonzepte, die hier auch Anwendung finden können40,45; sie betreffen das Thema dieses Beitrages insofern, als dass die Kiefergelenke im Rahmen einer solchen Therapie nicht komprimiert werden dürfen.
Kontrolle der Entwicklung der Mandibula
Das Wachstum der Mandibula kann einerseits unabhängig von den Zähnen erfolgen, andererseits können die Zähne aber auch Einfluss auf das Wachstum der Mandibula nehmen44. Es wird im Bereich der Schneidezähne im Oberkiefer oft beobachtet, dass eine Retrusionsstellung eines einzelnen Zahnes oder der gesamten Zahngruppe die Mandibula eher in eine retrale Lage bringen können.
Der Patient, der selbst ja keinen Vergleich kennt, wie sich eine physiologisch korrekte Verzahnung anfühlt, weicht mit seinem Unterkiefer eher nach dorsal aus, sobald er gegen einen retrudiert stehenden Frontzahn des Oberkiefers anstößt. Hierbei sind auch neuroplastische Phänomene zu beobachten51. Wird diese Situation rechtzeitig erkannt und kieferorthopädisch (meist mit einer Plattenapparatur) korrigiert (Abb. 9 a bis c), beobachtet man oft spontan eine Einstellung der Verzahnung in eine neutrale Verschlüssung – weil nun die Mandibula ohne störende Frontzahninterferenzen wachsen kann. In besonderen anderen Fällen, wenn eine mandibuläre Prognathie mit ausgeprägt vertikalem Wachstumsmuster vorliegt, kann eine okklusale Verschlüsselung das knöcherne Wachstum dagegen kaum noch aufhalten.
Interdigitation der Zähne und Freiraum im Kiefergelenk
Den Eckzähnen des Oberkiefers kommt bei Einstellung der Mandibula eine besondere Bedeutung zu. Auch hier dürfen keine Vorkontakte auftreten, die die Mandibula nach posterior zwingen würden. Gerade auch beim unkontrollierten Einsatz von Multibracketapparaturen kann dieses Phänomen beobachtet werden: Industriell nach Mittelwerten gestaltete Brackets können unter Einsatz der „Straight“ -wire-Technik nicht immer auf die palatinale Wölbung der Eckzähne Rücksicht nehmen (tatsächlich sind auch diese Bögen nicht „gerade“, sondern folgen der Kurve des Zahnbogens). Bei so von vestibulär her eingereihten Eckzähnen kann die Mandibula mit ihren Eckzahnspitzen an den Eckzahnwülsten anstoßen, bevor die Schneidezähne selbst zueinander Kontakt haben (Abb. 10a). Zwangsläufig stehen dann auch die Seitenzähne nicht exakt in Okklusion. Manche Patienten werden in diesem Zusammenhang sogar von ihren Behandlern bezichtigt, die verordneten Elastics nicht ausreichend zu tragen. Tatsächlich aber müssen die Eckzähne weiter nach außen gestellt werden (Abb. 10b), damit die Mandibula korrekt in die physiologisch korrekte Verzahnung (Klasse I nach Angle) einrasten kann (Abb. 10 c und d).
Der retrale Zwangsbiss
Die okklusale Verschlüsselung der Zähne nimmt wesentlichen Einfluss auf die Lage der Kondylen in der Fossa mandibularis. Dies liegt daran, dass der Zahnbogen des Unterkiefers und die Kondylen zusammen auf der Mandibula lokalisiert sind. Wenn die Zähne so angeordnet sind, dass bei maximaler Interkuspidation nur eine Position der Mandibula in posteriorer Lage möglich ist, kann dies auch Auswirkungen auf die Kiefergelenke haben: Der Condylus liegt dann entsprechend weit dorsal in der Fossa mandibularis (Abb. 11a und b). Dies wird zwar von einigen Patienten zunächst auch ohne Symptome toleriert, aber wenn damit schmerzhafte Verdrängungen und Verlagerungen des Diskus artikularis oder Fehlfunktionen und Fehlbelastungen der Kau-, Gesichts- und Hals-Schultermuskulatur auftreten, kann es für die betroffenen Patienten sehr belastend und schmerzhaft werden. Zusammengefasst werden solche Symptome unter dem Begriff Craniomandibuläre Dysfunktion. Je nach Feinheit der Diagnostik können damit auch Beziehungen zum subcranialen Bereich (Skelett, Muskulatur und Faszien) gefunden werden4. Es ist nicht in jedem Fall voraussagbar, ob und wann beim Vorliegen einer solchen Dysgnathie schwerwiegende Beschwerden auftreten16,19,20.
Aber wenn Beschwerden im Sinne einer Craniomandibulären Dysfunktion oder eines retralen Zwangsbisses vorliegen, ist es sinnvoll und notwendig, diese naheliegenden Fehlfunktionen durch Korrektur der Zahnstellungen zu beseitigen. Es hängt vom Zustand der betroffenen Gewebe ab, in welchem Maße eine Freiheit von Beschwerden erreicht werden kann. Die klinische Erfahrung und auch Studien zeigen, dass ein retraler Zwangsbiss mit kieferorthopädischen Mitteln durchaus bis zur Beschwerdefreiheit behandelt werden kann53.
Fallbeispiel
Im hier beschriebenen Beispielsfall (Abb. 11 a bis i) lag eine Dysgnathie der Angle-Klasse II/2 mit beidseits ½ Pb (Prämolarenbreite) distaler Molarenrelation, Retrusion der Frontzahngruppe, Extrusion der unteren Frontzahngruppe und frontalem Tiefbiss vor (Abb. 11a). Der Funktionsbefund zeigte Druckdolenzen und subjektive Beschwerden im Bereich des M. masseter und des M. temporalis beidseits. Die Kondylen lagen bei maximaler Interkuspidation posterior in der Fossa mandibularis (Abb. 11b), der Diskus artikularis lag in dieser Stellung partiell nach anterior disloziert. In einer mehr anterioren Lage konnte der Diskus wieder auf den Condylus aufspringen. Zur Kontrolle der Relation zwischen Kondylen, Fossa mandibularis und Diskus artikularis wurde eine Serie von MRT-Aufnahmen der Kiefergelenke angefertigt: Die erste Aufnahme in maximaler Interkuspidationsstellung der Zähne, die zweite nahe der Kopfbisslage der Frontzähne. Zur Unterstützung der Patienten und des Radiologen werden für diese Position meist Wachbissnahmen angefertigt und zur radiologischen Untersuchung mitgegeben. Im hier vorliegenden Fall war der Diskus artikularis in der anterioren Haltung der Mandibula gut auf dem Condylus positioniert (Abb. 11d).
Die Patientin nahm diese Position der Mandibula oft als Schonhaltung ein; sie lag über die Ruheschwebelage hinaus weiter offen und mehr nach anterior in Richtung Kopfbiss der Schneidezähne. Zudem wurde die Zunge von innen in den so entstehenden interokklusalen Spalt gepresst und so die eher anteriore Lage der Mandibula unterstützt. Oft zeigt die Zunge an ihrem lateralen Rand einen girlandigen Verlauf, der von den Impressionen der Zähne herrührt.
Als Sofortmaßnahme wurde die Patientin mit einer „aktiven Äquilibrierungsschiene“52 versorgt. Mit den beiden plan geschliffenen seitlichen Aufbisstischen wurde die von ihr bevorzugte Lage der Mandibula unterstützt. Weil jegliche Information über die falsche oder richtige okklusale Verschlüsselung der Zahnhöcker im Seitenzahnbereich abgedeckt war, konnte mit dieser Schiene für die Patientin eine Lage der Mandibula ermittelt werden, die allein von den Kiefergelenken und nicht von den okklusalen Verhältnissen der Zähne bestimmt wurde (Abb. 11c). Die Patientin beschrieb diese Lage der Mandibula als eher angenehm, und wenn sie die Schiene herausnahm, empfand sie eine Zunahme der Schmerzen und Verspannungen in der periartikulären Region, in dem Maße, wie sie die von der Zahnstellung in eine posteriore Lage gezwungen wurde. Diese aktive Äquilibrierungsschiene enthielt außer den planen seitlichen Aufbisstischen noch eine Bertoni-Schraube, mit der die stark nach posterior geneigte obere Frontzahngruppe tendenziell aufgerichtet werden konnte. Auch eine Justierung der Breite des Zahnbogens im Oberkiefer ist damit möglich (Abb. 11e), denn oft hat der Oberkiefer eine zu geringe Breite, die der bisher bestehenden Rücklage des Unterkieferzahnbogens entspricht. Die hier beschriebene Patientin trug diese aktive Äquilibrierungsschiene von Anfang an tags und nachts und nahm sie nur zum Essen heraus und zu Gelegenheiten, bei denen sie das Sprechen zu stark störte. An den Schrauben sollte sie zunächst einmal pro Woche stellen. Subjektive Beschwerdefreiheit trat schon nach zwei Wochen ein, allerdings nur wenn die Patientin die Schiene trug. Sobald sie sie zum Essen herausnahm und in retraler Lage kauen musste, empfand sie dies als unangenehm. Je länger sie die Schiene trug und je länger sie die steil stehende Frontzahngruppe durch wöchentliches Aktivieren der Schraube nach anterior schob, wurde es für sie weniger belastend, auch zeitweise ohne Schiene auszukommen: Die obere Frontzahngruppe, die ihre Mandibula in die posteriore Zwangslage gebracht hatte, wurde in kleinen Schritten aus dem Weg geschoben.
Schließlich hatte sich die Patientin dazu entschieden, die Frontzahngruppe mit einer effektiv wirksameren Multibracketapparatur aufrichten zu lassen (Abb. 11f) und die Verzahnung zum Unterkiefer in eine physiologisch korrekte Verzahnung (Klasse I nach Angle) einstellen zu lassen (Abb. 11g). Dies gelang unter anderem auch unter Zuhilfenahme von Klasse-II-Elastics (ähnlich wie in Abb. 10d), aber auch dadurch, dass die Patientin bewusst die von ihr beschwerdefreie und insofern gewünschte und bevorzugte anteriore Lage einnahm. Voraussetzung hierzu waren allerdings die Ausformung der Zahnbögen, insbesondere die Aufrichtung der Frontzahngruppe im Oberkiefer und eine Intrusion der Frontzahngruppe im Unterkiefer mit der Multibracketapparatur.
Die Gegenüberstellung der beiden Fernröntgenseitenaufnahmen vom Zeitpunkt vor der Behandlung (Abb. 11h) und nach der Behandlung (Abb. 11i) zeigt eine deutliche Aufrichtung der Frontzahngruppe um fast 26° und eine Verlagerung der Mandibula nach anterior mit Einstellung in eine neutrale Relation der Molaren und einer entsprechenden Lageveränderung des Condylus nach anterior. Zwischen den beiden Fernröntgenauswertungen liegen etwa vier Jahre, die aktive Behandlungszeit betrug aber zwei Jahre.
Diskussion zur Adaptabilität der Strukturen im Kiefergelenk als Voraussetzung für die Therapie
Bei jugendlichen Patienten, die sich noch im Wachstumsschub befinden, ist es durchaus möglich, bei der kieferorthopädischen Korrektur der Rücklage der Mandibula auch einen erheblichen Anteil an Wachstum der Mandibula und insbesondere in der Kiefergelenksregion zu erwarten7. Bei erwachsenen Patienten stellt sich dagegen zunächst die Frage, in welchen Ausmaß hier eine Doppelbisslage vorliegt11. Patienten, die nicht darüber aufgeklärt werden, in welchem Maße sie eine Doppelbisslage haben, werden meist unkontrolliert beide Bisslagen einnehmen. Wem es aber erklärt wurde, wer gelernt hat, wie sich die Bisslagen anfühlen und wer die Bisslage in Klasse I bevorzugt, wird sie auch auf Dauer unbewusst einnehmen51. Als Retentionsmaßnahme für die erreichte Bisslage in Klasse-I-Relation bietet sich zudem das Tragen eines Retentionsaktivators an, der diese Bisslage sichern kann. Aus den anatomischen und histologischen Grundlagen, die im ersten Teil dieses Beitrags beschrieben worden sind, kann aber auch erwartet werden, dass nachhaltige biologische Anpassungen die therapeutisch erreichte Bisslage in Klasse I sichern helfen.
Der Condylus selbst kann noch wachsen, vor allem dann, wenn er aus einer retralen Lage heraus in eine mehr anteriore Lage in Richtung Übergang von der Konkavität zur Konvexität der Fossa mandibularis gebracht wird. Dieses Wachstumspotenzial ist auf den Anteil des auch im Erwachsenenalter noch vorhandenen proliferationsfähigen Knorpelgewebes im Condylus zurückzuführen25,68, wobei die hypertrophen Chondrozyten nur bis etwa zum 30. Lebensjahr beobachtet29,49 werden. Generell ist bekannt, dass das Gesicht, so auch vor allem die Kiefer, noch lebenslang wachsen. Dies zeigen Untersuchungen anhand von Fernröntgenaufnahmen bei denselben Individuen über einen Zeitraum von mehr als fünf Jahrzehnten hinweg1. Hier spielen die bekannten Knochenumbauvorgänge eine Rolle12–14. Insofern ist damit zu rechnen, dass sich auch Bissumstellungen, die im höheren Erwachsenenalter in einem Ausmaß um eine halbe Prämolarenbreiten (Pb) vorgenommen werden, durch diese Knochenumbauvorgänge und durch das individuell vorhandene Wachstumspotenzial sichern lassen.
Ob das „Einfangen“ des Diskus articularis durch die Lageänderung des Condylus gelingt, hängt von den morphologischen Gegebenheiten, den Vorschäden, vor allem aber von der noch verbliebenen Elastizität des posterioren Bandapparates, insbesondere der bilaminären Zone ab40,45. Einen direkten antagonistisch auf den M. pterygoideus lateralis wirkenden Muskel gibt es ja im posterioren Gelenkbereich leider nicht.
Ein Beitrag von Prof. Dr. Dr. Ralf J. Radlanski, Berlin
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