Die vermeintlich beste oder schnellste Therapielösung muss nicht immer eine gute Wahl sein. Dieses Paradoxon erlebt, wer regelmäßig mit stark gehandicapten Patienten zu tun hat. „Einerseits kommen diese Patienten teils mit objektiv stark insuffizientem Zahnersatz erstaunlich gut zurecht, andererseits ist die Fähigkeit der Adaptation an objektiv suffizienten, neuen Zahnersatz teilweise nicht mehr gegeben", erklärt PD Dr. Oliver Schierz (Uni Leipzig) im Vorfeld der 29. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für AlterszahnMedizin (DGAZ) am 15. Juni 2019 in Hamburg.
Dieser gemeinsam mit einer Sonderfortbildung der Zahnärztekammer Hamburg durchgeführte Kongress widmet sich dem Thema „Prothetische Versorgung bei Gebrechlichen und Pflegebedürftigen“. Schierz referiert dabei zur „Versorgung von Gebrechlichen und Pflegebedürftigen mit Teilprothetik im geriatrischen Workflow“. Im Interview erläutert er die Bedeutung des Erhalts der Mundgesundheit auch im Hinblick auf die Psyche der Betroffenen. Programm und Anmeldemöglichkeit zum Kongress auf www.dgaz.org.
Zahnmediziner mögen keine halben Sachen und denken – auch in der Prothetik – in bestimmten Standards. Warum ist es aber sinnvoll, bei Gebrechlichen oder Pflegebedürftigen mit Teilprothetik statt der objektiv fälligen Rundum-Erneuerung eine nicht ganz so perfekte Lösung anzubieten und gewisse Abstriche zu machen?
PD Dr. Oliver Schierz: Bei der Versorgung von Gebrechlichen und Pflegebedürftigen stehen in der Regel funktionelle beziehungsweise Schmerzaspekte und weniger ästhetische Aspekte im Vordergrund. Darüber hinaus ist bekannt, dass die Anpassungsfähigkeit im Allgemeinen, aber im Besonderen auch an neuen Zahnersatz, erheblich eingeschränkt sein kann. Einerseits kommen diese Patienten teils mit objektiv stark insuffizientem Zahnersatz erstaunlich gut zurecht, andererseits ist die Fähigkeit der Adaptation an objektiv suffizienten, neuen Zahnersatz teilweise nicht mehr gegeben.
Nichtsdestotrotz besteht oft aus hygienischen oder funktionellen Gründen eine Versorgungsnotwendigkeit. Hier ist es oftmals sinnvoller, vorhandenen Zahnersatz schrittweise umzubauen. Es erhöht erheblich die Chance auf die Akzeptanz der veränderten Versorgung. Insofern ist in diesen Fällen häufig weniger Veränderung beziehungsweise zeitlich gestreckte Änderung mit einem Mehr an Behandlungserfolg verbunden.
Wie stark hängen der Austausch abgenutzten Zahnersatzes, Alter und allgemeiner Zustand des Patienten zusammen? Was sollte man dabei beachten?
Schierz: Wie wir wissen, steigt mit zunehmendem Alter die Multimorbidität und die Leistungsfähigkeit sinkt. Durch die mit dem Alter geringere Zahl der verbliebenen natürlichen Zähne wird häufig bereits abnehmbarer Zahnersatz getragen. Patienten scheuen oftmals auch eine Investition, da es sich aus ihrer Sicht ja nicht mehr lohnt, den Zahnersatz so kurz vor dem vermeintlichen Lebensende grundsätzlich zu überarbeiten. Andererseits ist dies aber auch in der stark verminderten Belastungsfähigkeit bei Gebrechlichen und Pflegebedürftigen begründet.
Bekannt ist ebenfalls, dass funktionell schlechter Zahnersatz zu einer Beschleunigung des geistigen und körperlichen Verfalls beiträgt. Gründe dafür werden vor allem in der eingeschränkten Kaufunktion und in der damit verbundenen Umstellung der Kost auf eine weiche, weniger gesunde Ernährung gesehen. Auch fördert ein intensiver Gebrauch der Kaumuskulatur die Gedächtnisleistung.
Leider ist auch bekannt, dass eine stark verzögerte Rehabilitation der Kaufunktion – zum Beispiel mit implantatgetragenem totalem Zahnersatz – in der Mehrzahl der Fälle nicht zu einer Rückkehr zu früheren Ernährungsgewohnheiten führt. Es gilt daher, die Kaufunktionalität möglichst nicht über längere Zeit in einem insuffizienten Zustand zu belassen, um dieses Problem zu vermeiden.
Schätzen die Patienten selbst ihre Lage richtig ein? Oder braucht es häufiger ein Korrektiv des Behandlers?
Schierz: Wie bereits erwähnt, weicht der objektive Zustand des Zahnersatzes sehr häufig vom durch den Patienten empfundenen subjektiven Zustand erheblich ab. Wir wissen, dass sich das Prothesenlager im Laufe der Zeit verändert, so dass abnehmbarer Zahnersatz in regelmäßigen Abständen angepasst werden kann. Falls dies unterbleibt, kann es zu Frakturen der Pfeilerzähne, Defekten der Halteelemente, chronischen Druckstellen oder auch zu einem verstärkten Abbau des Teguments kommen.
Welche Bedeutung hat die Ästhetik in diesem Zusammenhang zum einen beim Patienten und zum anderen beim Behandler? Welche Rolle spielt gleichzeitig die Funktionalität?
Schierz: Die Ästhetik ist in dieser Patientengruppe klar der Funktion nachgeordnet wichtig. Dies bedeutet aber nicht, dass ästhetische Aspekte vollkommen unbeachtet bleiben sollten, da diese für das Selbstvertrauen des Patienten wichtig sind. Bei erheblicher Vernachlässigung dieser Ästhetik kann das nachteilig auf psychosoziale Interaktionen sein.
Inwieweit spielen handwerkliches Geschick und Technik bei der Teilprothetik eine Rolle? Welche Ratschläge können Sie den Kolleginnen und Kollegen hier geben?
Schierz: Erfahrung und handwerkliches Geschick spielen nicht nur in der Teilprothetik eine große Rolle. Deshalb gibt es auch in Abhängigkeit des Zahnarztes unterschiedliche Vorlieben für bestimmte Zahnersatzformen.
Grundsätzlich sollte aber nicht nur das Geschick des Zahntechnikers oder Zahnarztes auschlaggebend sein, sondern vor allem das Geschick des Patienten, den Zahnersatz ein- beziehungsweise auszufügen und auch zu pflegen. Beides ist bei der betreffenden Patientengruppe leider oftmals sehr eingeschränkt gegeben. Deshalb gilt, dass sowohl der festsitzende Teil als auch der abnehmbare Anteil einfach zu reinigen sein sollte.
Insofern sind Stege und größere festsitzende Konstruktionen eher weniger geeignet. Bevorzugt werden sollten herausnehmbare Lösungen, welche einfach instand zu setzen beziehungsweise zu erweitern sind. Dies trifft bei konventionellem Zahnersatz vor allem auf klammer- und teleskopverankerten Zahnersatz zu. Bei implantatgetragenem Zahnersatz erfüllt neben teleskopverankertem Zahnersatz vor allem locator- und kugelkopfverankerter Zahnersatz diese Kriterien.
Unabhängig vom eigenen Vortrag: Mit welchen Erwartungen fahren Sie zur DGAZ-Jahrestagung nach Hamburg?
Schierz: Ich hoffe auf einen interessanten Erfahrungsaustausch in diesem doch sehr anspruchsvollen Gebiet der Zahnmedizin. Es gibt viele, oftmals einfache Möglichkeiten, den Patienten mit seinen Problemen besser helfen zu können. Darüber hinaus gilt es, aus den Fehlern anderer zu lernen, um diese selbst vermeiden zu können.